Ein besonders schwerer Fall des Diebstahls (1)

Mehr als die Hälfte aller im Freistaat Sachsen entwendeten Fahrräder werden im Bereich der Polizeidirektion Leipzig gestohlen. Gefühlte 156 Prozent davon in Markranstädt. Dem Nachtschichten-Team ist es kürzlich gelungen, einen „StGB § 243 besonders schweren Fall des Diebstahls“ aufzuklären. Ein nicht nur wichtiger Beitrag zur Steigerung des Sicherheitsgefühls in unserer Stadt, sondern zugleich ein neuer Höhepunkt satirischer Lebensqualität. Unglaublich, was’n Spaß kriminalpolizeiliche Ermittlungsarbeit mit sich bringt!

Es ist kaum eine Woche her, dass Landrat Henry „Smileface“ Graichen zufriedenen Schritts das Rathaus verließ. Kurz zuvor gabs ein Treffen mit Bürgerpolizist und -meister, dessen Extrakt den König des Landkreises offenbar noch zufriedener lächeln ließ. Heißt: Alles in Ordnung in Markranstädt, keine Probleme. Aber nur wenige Tage später neigte sich eine Geschichte ihrem Ende entgegen, die es angesichts des Trialogs im Rathaus nie gegeben haben dürfte.

Sonntag, 22. April, 14 Uhr:
Vier MN’ler starten zur Reportage-Umrundung des Kulki. Ich bin dabei! Allerdings sollte es für mich die letzte Fahrt auf meinem Drahtesel werden.

Sonntag, 22. April, 21 Uhr:
Tour beendet. Wir wollen uns im Bunker nochmal kurz zusammensetzen und unsere auf dem Trip gesammelten Erfahrungen zu Papier bringen. Ich stelle das Fahrrad in den Ständer vor der Haustür und schließe es an. Danach gehe ich zu Fuß in die Nachtschichten-Höhle.

Montag, 23. April, 17 Uhr:
Ganzen Tag unterwegs gewesen. Ich komme nach Hause und stelle fest, dass das Fahrrad weg ist. Leider ist mein ABV nicht mehr im Büro und im übergeordneten Revier in der Ratzelstraße geht niemand mehr ans Telefon. So beschließe ich, mit der Anzeige bis zum nächsten Tag zu warten und bis dahin meinen Zorn auf die gesellschaftlichen Bestandteile Dreckspack und Gesindel zu kultivieren. Vor allem die Ethnien der Pfoten-abhacken-müsste-man-denen kriegen zusammen mit den Ins-Lager-sperren reichlich zu hören.

Dienstag, 24. April, 15 Uhr:
Ich klingle am Bürgerbüro. Mein ABV öffnet die Tür, schaut mich entgeistert an und fragt:
’sn nu schon wieder los?
Wie immer: Fahrrad.

Schlagartig entweicht Luft aus seinen Lungen und seine Schultern geben im 45-Grad-Winkel der Erdanziehungskraft nach. „Hmm, gut … mmse rein.“ Seine Handgriffe sind routiniert, mit schlafwandlerischer Sicherheit findet er alle Formulare. Die Hefter, in denen sie ruhen, sind abgegriffen. Die Aufnahme von Diebstahlsanzeigen sind in diesem Raum quasi Lebensinhalt und Karriereende zugleich.

Am Schreibtisch wird mir klar, dass so ein Fahrrad fast sowas wie eine Frau ist. Man reitet ständig drauf rum, aber so richtig kennen tut man sie nicht. Wissen Sie, ob Ihr Fahrrad Bärentatzen hat oder ob es ein Touren,- Trekking- Cross- oder Reiserad ist? Oder gar ein MTB? Meins war von allem etwas und vor allem bin ich damit Fahrrad gefahren. Aber eine intersexuelle Auswahlmöglichkeit gibts auf dem Formular (noch) nicht.

Ist eh sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Das Teil ist weg und niemand – auch nicht mein ABV – wird ernsthaft danach suchen. Es geht nur um die Tagebuchnummer für die Versicherung. Also kreuze ich die Felder auf dem Zettel nach bestem Wissen und Gewissen an und reiche meinem Bürgerpolizisten das Dokument zurück.

Eine halbe Stunde später stehe ich, meine Anzeige in der Hand, wieder auf der Straße. Jetzt habe ich eine Tagebuchnummer! Die gebe ich wenige Minuten später meiner Versicherung durch. Der Geschlipste offeriert mir, dass ich für meinen Oldtimer maximal 120 Euro bekommen würde und das zudem letztmalig.

Mit dem dritten Diebstahl binnen zwei Jahren wäre ich ein Serienopfer und somit nicht mehr versicherungswürdig. Ich sollte mir deshalb sehr gut überlegen, ob ich die Lappalie wirklich zum Versicherungsfall machen wolle.

Der Schlipsträger unterstützt meine Entscheidung mit der Bemerkung, dass ich in Markranstädt wohne und es deshalb nicht lange dauern kann, bis mir wieder mal der komplette Keller ausgeräumt wird. Es würde doch mehr Sinn machen, die letzte der drei Haselnüsse für diesen Fall aufzuheben. Ich gebe mich geschlagen. Noch am Abend räume ich alles, was Wert hat und nicht mehr gebraucht wird, von der Wohnung in den Keller.

Samstag, 5. Mai, 10 Uhr:
Bei einer Fundsachenversteigerung erhalte ich den Zuschlag für ein nahezu neuwertiges Fahrrad, das zudem technisch top in Schuss ist. Es kostet mich ganze 21 Euro. Nun bin ich wieder mobil und kann damit nach meinem gestohlenen Rad suchen.

Es geht mir inzwischen längst nicht mehr um den materiellen Verlust, sondern um die Wiederherstellung meines verletzten Stolzes. Irgendwer muss solchen Typen doch mal mit einer Lenkstange die Pfoten brechen, damit endlich wieder Zucht und Ordnung einkehren!

Sonntag, 13. Mai, 19 Uhr:
Jemand hat mir mitgeteilt, dass er ein Fahrrad gesehen hat, das meinem sehr ähnlich sieht. Ich schwinge mich auf meinen ersteigerten Drahtesel und schaue vor Ort nach. Aber da ist nix (mehr). Einer inneren Eingebung folgend, fahre ich auf dem Rückweg am Hotel „Damaskus“ vorbei. Hab ich in den letzten Tagen schon immer mal wieder gemacht. Weiß auch nicht warum.

Gewisse Informationen aus Bevölkerungskreisen haben in mir den Verdacht geweckt, dass die Integration von fremdem Eigentum dort besser klappt als die der Hotelgäste. Aber als ich um 20 Uhr (bitte merken, diese Zeitangabe wird später noch mal wichtig!) dort ankomme, ist mein Fahrrad nicht im dort abgestellten Fuhrpark integriert.

Mittwoch, 16. Mai, 15 Uhr:
Sie haben eine E-Mail!“ Mein Paket ist da. Seit ich schmerzlich erfahren habe, dass beim Dienstleister dpd die Begriffe ‚Logistik‘ und ‚Logik‘ wirklich nichts weiter verbindet als eine Ähnlichkeit im Wortklang, lasse ich meine Pakete lieber im Pick-up-Shop abgeben. Da wissen die Zusteller wenigstens, wo das ist und ich weiß, dass es dort ankommt. Fortschritt und Wachstum entwickeln sich immer schneller. Ich hole mir meine Pakete jetzt selbst ab.

Auf dem Weg dorthin fahre ich rein prophylaktisch am Hotel vorbei. Beim schweifenden Blick über die Fahrradständer entdecke ich … Wahnsinn! … mein gestohlenes Fahrrad. Das heißt, eher seine Reste. Es ist wie ein Stich in die Seele. So muss das liebend Herz einer Trümmerfrau gefühlt haben, als ein menschenähnliches Wrack nach Jahren der Gefangenschaft in ihrer Tür stand und sich als ihr Mann ausgab.

Ich fotografiere den Schrotthaufen, streichle zärtlich über den Rahmen und flüstere ihm zu „Bleib hier und rühr dich nicht von der Stelle. Ich hole dich hier raus!“ Dann will ich ins gelbe Haus einrücken und das Gespräch mit der Lagerkommandantur suchen. Muss ja möglich sein, sowas per Dialog zu lösen.

Die Tür ist verschlossen, aber kaum habe ich den Klingelknopf losgelassen, surrt der Türöffner. In der Lobby kommt mir ein Jüngelchen entgegen, dem ich selbst bei optimistischster Sozialauswahl nur eine Perspektive als Steuermann in einem Ruderachter gegeben hätte.

Wissen sie, wer hier’n Hut auf hat? Hätte gern mal einen Verantwortlichen gesprochen.

Heimleitung erst morgen wieder.

Hier muss doch jemand da sein, der …

…bin ich. Eigentlich der Hausmeister hier, aber jetzt grade, abends …

In mir wächst der Respekt. Der Steuermann eines Ruderachters als nächtlicher Lagerkommandant in einem internationalen Schmelztiegel der Religionen. Kein Wunder, dass dieses Gemäuer weithin als Hort der Zucht und Ordnung gilt.

Ja dann – geben sie mir doch mal bitte die Rufnummer dieser … Heimleitung?!

Nee, erst morgen wieder.

Äh … ja … wie jetzt? Ist das eine Hotline, die nur zeitweise geschaltet ist oder kriegen sie die Nummer jeden Tag neu? Die müssen doch erreichbar sein.

Ja, morgen wieder. Um was geht’s denn?

Mir hamse’s Fahrrad geklaut und jetzt stehts bei ihnen da draußen.

Ja dann gehnse am besten gleich zur Polizei.

Okay, mach ich. Tschüß und viel Glück für heut‘ Nacht.

Ja danke, tschüß. (Geht in eine Art fest installierten Fahrstuhl und schließt sich dort ein.)

Ich radle zum Pick-up-Shop, hole mein Paket ab und fahre volley zum Büro des ABV. Natürlich nicht ahnend, dass Mittwoch ist und die Uhr außerdem schon 17 Uhr zeigt.

Die Tür ist verschlossen, aber weit und breit auch kein Schild mit den Öffnungszeiten zu sehen. Also klingle ich. Sekunden später knarzt es im Lautsprecher der Wechselsprechanlage.

Krrrtzkrrr …evier…ch-ch-cht… üdwest, ja bitte?

Ähm, ich bin hier wegen meines Fahrrades. Können sie mich bitte reinlassen?

Es ist niemand da!

Aha! Ich muss mich sammeln, blicke mich um nach einer Drohne oder wenigstens einer versteckten Kamera. Und mit wem spreche ich jetzt, wenn keiner da ist?

Hier ist das … In diesem Moment donnert ein LKW hinter mir durch die Zwenkauer Straße und übertönt die Stimme aus der Parallelwelt. Als sich der Lärm legt, höre ich gerade noch die Wortfetzen …hier in Leipzig.

Alle Wetter, so weit sind die schon! Können sich von Leipzig aus in Markranstädter Wechselsprechanlagen hacken und so ein tiefes Gefühl von innerer Sicherheit vor Ort bis in den letzten ländlichen Winkel transportieren. Das nenn ich mal innovativ. Als ich dem Lautsprecher antworten will, schaltet die Ampel hinter mir auf Grün und macht sämtliche Versuche interaktiver Kommunikation zunichte. Ich brülle in die Anlage: „Ich geh nach Hause und ruf sie von dort aus an!“

Durch ein mir physikalisch nicht erklärbares Wunder muss er diese Worte verstanden haben, obwohl hinter mir gerade ein ganzer Konvoi tonnenschwerer Mautflüchtlinge mit Vmax über die Bodenwellen vor der Ampel donnert.

Was wollnse denn? (der gehackte Lautspecher bleibt hartnäckig)

Macht so keinen Sinn. Ich ruf sie an!

Nach diesem abrupten Ende der Konversation fahre nach Hause.

Was mich in den folgenden drei Stunden erwartet, ahne ich in diesem Moment nicht einmal ansatzweise. Selbst unter Drogen kann sich der menschliche Geist nicht so weit öffnen, um die kommenden Geschehnisse wenigstens als Trugbild zuzulassen.

(Fortsetzung folgt)

 

3 Kommentare

  1. Wenn die Polizei meinen Namen hört, vergeht allen der Humor.
    Ich muss dort wohl zu oft anrufen.
    Streife ist dann meistens gerade keine frei.
    Ein Anruf nebenan muss da genügen.

    Mhm, wenn der, wie oft nicht reicht?

  2. zu „übergeordneten Revier in der Ratzelstraße“ — ist mir neu. Mir wurde gesagt, Anlaufstelle ist stets Markleeberg. Leipzig hatte uns wiederholt abgewimmelt und nach Markleeberg verwiesen. Dort ist eigentlich immer jemand da (gleiches Knattern in der Leitung und Humor 🙂 Markleeberg half sogar neulich, als ich wegen aufgebrochenem PKW in Stadt Leipzig dort anrief. Zwei Stunden später stand die Streife vorm beschädigten Auto.

    1. Muss es nicht heißen „keine zwei Stunden später“?

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