Im Mondschatten des Stadtgeschwürs

Satire lebt von Überhöhungen. Aber was tun, wenn es nichts mehr zu überhöhen gibt? Was vorgestern in unserem Beitrag zum neuen Pokémon-Hype beschrieben wurde, war zwar nach Meinung der Autoren überhöht, hinkt aber selbst der konservativsten Realität um Meilen hinterher. Deshalb haben wir uns am Samstagabend an die Fersen eines Markranstädter Teams gehängt, das gerade auf Pokémon-Safari war. Unglaublich, was wir da erleben durften.

Samstag, 21:30 Uhr: Wir wurden gewarnt. Unsere Scouts, drei erfahrene Pokémon-Jäger, kennen das Markranstädter Revier wie ihre Westentasche und wissen auch um die Gefahren, die da lauern. Um unsere Sicherheit ging es also nicht bei der Warnung. Aber um unsere Erwartungshaltung.

„Okay, Kids und Teens können wir euch natürlich auch zeigen. Aber wundert euch nicht, wenn die Hälfte der Jäger, die wir gleich sehen werden, in der Altersgruppe zwischen 20 und 40 liegt.“ Ähm … ja, natürlich. Was sonst?

Heimatkunde mit Nintendo

Auf geht’s also zur „Einführungsrunde“. Startpunkt ist die Stadtkirche. Hier befindet sich auch gleich der erste Lallendorfer Poké-Stop. An einem solchen, so erklärt unser Indiana Jones, erhält man unter anderem Poké-Bälle, die man braucht, um unterwegs ein Pokémon fangen zu können. Nicht weit entfernt, am Brunnen an den Markt-Arkaden, finden wir schon den nächsten Poké-Stop.

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Nicht verwechseln: Der zentrale Poké-Stop in Markranstädt befindet sich im rechten Gebäude. Kommet, ihr Schäfchen, ach kommet all!

Interessant ist, dass man zu den einzelnen Orten auch ein paar Informationen erhält über das, was er in der realen Welt darstellt. Die Kirche wird als Kirche beschrieben, der Brunnen als „Kinderfest-Brunnen“, das Denkmal auf dem Alten Friedhof heißt „Treue“, der Wasserturm einfach nur Wasserturm und der Stahl-Stachel in der Leipziger Straße … nein, diesen Höhepunkt heben wir uns fürs Finale auf.

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Heimatkunde „made by nintendo“. Wer hätte gedacht, dass es heute noch Kirchen gibt?

Der nächste Halt auf unserer Safari wartet in der Krakauer Straße. Wenn die Protestanten schon einen haben, muss man den Katholiken natürlich auch einen Poké-Stop geben. Hat wohl was mit Religionsfreiheit zu tun. Allerdings suchen wir wenige Minuten später am Hotel vergeblich nach einem weiteren Indiz interreligiöser Spielkultur. Ein Burka-Stop vielleicht oder ein Pokérett?

Ein Fall für die Grünen

Wir wähnen uns dennoch im sicheren Gefühl, dass Renate Künast oder Katrin Göring-Eckardt dieser unerträglichen abendländischen Arroganz bald ein Ende machen und Nintendo – notfalls vorm Internationalen Gerichtshof – zu einem integrativen Update zwingen werden.

Ganze Armeen unterwegs

Also weiter geht’s in die Albertstraße. Unterwegs fangen wir nicht nur zahlreiche herumlungernde Pokémons, sondern treffen auch deren Jäger. Viele. Sehr viele! Unwahrscheinlich viele!!! Es sind jene Gestalten, die durch die Stadt laufen und stets nur auf das Smartphone in ihrer Hand blicken. Das geübte Auge stellt bei einem kurzen Sichtkontakt mit dem Display fest, dass die tatsächlich alle Pokémon Go spielen. Wirklich unvorstellbar!

Und ja: Selbst jenseits der 30 scheut man sich nicht, sogar mit dem Partner oder der Partnerin noch einmal Hand in Hand (im jeweils freien Greifer das Smartphone) eine nächtliche Runde durch die Kernstadt zu drehen, nachdem die Kinder abgefüttert sind und im Bett liegen.

Gegen 22:30 Uhr droht es langweilig zu werden mit all den Pokémons und Poké-Stops. Doch just in dem Moment kommt der Wasserturm ins Blickfeld und mit ihm eine völlig neue visuelle Erfahrung auf dem Display. Die Location schillert in allen erdenklichen Farben, wird von Scheinwerfern angestrahlt und hat sowas wie einen Thron obendrauf.

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Die Pokémon-Arena am Hirzelplatz. Hier kann man die gefangen genommenen Pokémons aufeinander loslassen.

Was Normalsterbliche nicht wissen können: Der Wasserturm ist längst keiner mehr, sondern wurde von St. Nintendo zur Pokémon-Arena erhoben. Man kann das übrigens auch in der realen Welt erkennen. Während noch vor wenigen Wochen um diese prä-nächtliche Zeit die Fußwege hochgeklappt waren, tummeln sich heute rund um den Wasserturm … sorry: die Pokémon-Arena … zahllose Menschen, die scheinbar nur zufällig vorbei gehen und dabei gespannt auf ihre Handys schauen oder noch gespannter auf den Displays rumwischen.

„Das geht ja gar nicht“, meint unser Indiana Jones beim Anblick des roten Wesens auf seinem Display, das von dessen Besitzer mit dem Namen „Wut-Lukas“ betauft wurde und auf dem Turm thront. Was Indiana Jones meint, ist die Farbe des Monsters. Unser Scout spielt im Team Gelb und kann Rotes in der Arena nicht dulden. Also stellt er sich dem Kampf und hat nach wenigen Minuten den Hirzelplatz zurückerobert. Kein Muggel in der Nachbarschaft hat etwas von dieser Schlacht mitbekommen. Einfach irre!

Alter schützt vor Eiern nicht

Unterdessen hat auch ein deutlich reiferes Pärchen die Arena erreicht. Dessen Alter ist in der Dunkelheit schwer zu schätzen, aber Körperhaltung und Schritt lassen schließen, dass die Obergrenze der Fertilität so langsam erreicht sein dürfte. Solche Leute haben entweder Hunde oder … na ja … jagen Pokémons. Es ist 22:50 Uhr und wir hoffen im Interesse des Fortbestandes der Menschheit, dass das Pärchen mit seinen Smartphones wirklich nur telefonieren will. Doch diese Hoffnung wird sofort im Keim erstickt.

Die Dame hat an einem der Poké-Stops neben ein paar Bällen offensichtlich auch ein Ei erhalten. Aus der Konversation mit dem Mann an ihrer Seite hören wir den Fetzen :“Zehn Kilometer!“ Indiana Jones klärt uns auf: „Die muss jetzt zehn Kilometer laufen, bis das Ei ausgebrütet ist. Es gibt auch Zwei- und Fünfkilometer-Eier.“ Wow!

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Ein Pokemon-Ei unmittelbar vor dem Schlüpfen des Kückens. Die Eltern müssen es zwei, fünf oder zehn Kilometer mit sich rumschleppen. Wenn Google genug Daten über die Bewegungsmuster der Glucke gesammelt hat, platzt die Schale.

Und als ob er Gedanken lesen könnte, fügt er hinzu: „Autofahren ist nicht. Das kriegt das GPS von Google anhand der Geschwindigkeit mit.“ Ah ja!

Über die Karlstraße geht’s in die Leipziger Straße. Zwar wird in der Parkstraße wieder ein Poké-Stop angezeigt, aber wir entschließen uns angesichts der Menschenansammlung dort (wohlgemerkt: 23:08 Uhr!!!), diesen zu ignorieren. Wir haben ja noch genug Bälle.

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Pokémobil? Nur Satiriker können hier einen Poké-Stop erkennen. Trotzdem ist es leider nur eine einfache Parkbucht …

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… denn der Poké-Stop in der Parkstraße befindet sich an diesem Gebäude.

Am Alten Friedhof wird es richtig interessant. Bunte, in allen Farben schillernde Punkte lassen ahnen, dass es hier Besonderes gibt. „Hier hat einer ein Lock-Modul ausgesetzt“, weiß unser Scout. „Das lockt jetzt andere Pokemons an. Wir brauchen uns hier nur hinzusetzen und zu warten.“ Außerdem erfahren wir, dass das Denkmal, im Spiel heißt der Ort „Treue“, auch eine Arena ist. Also auf zum Kampf?

Das Stadtgeschwür erlangt Weltruhm

„Nein!“, meint Indiana Jones, „Erstmal räumen wir den Poké-Stop ab.“ Das seltsame phallische Stahlschneckenmonument an der Leipziger Straße ist nämlich ein solcher. Allerdings gibt uns dessen Bezeichnung die Hoffnung an die Menschheit zurück.

Wahrscheinlich hat sich die künstlerische Aussage der Installation bereits bis in die Programmierkeller der japanischen Entwickler herumgesprochen. „Urbanis Karzinomi“ steht da deutlich und weltweit sichtbar im Display. Wie hatte man in Lallendorf doch gehofft, dass weder das Kunstwerk selbst, noch dessen Bezeichnung irgendwelche Metastasen streuen würden? Und nun weiß es dank Pokémon Go die ganze Welt. Wir können unser Glück ob dieser satirischen Einlage kaum fassen.

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Was hier so friedlich in der Gegend umher steht, ist in der Parallelwelt der Poké-Stop „Urbanis Karzinomi“ und im Hintergrund die Kampfarena „Treue“. Wenn dann noch einer ein Lockmodul aussetzt, gehts rund auf dem Alten Friedhof!

In diesem Moment quietschen Bremsen und ein BMW kommt in der Parkbucht vor Felgentreff zum Stehen. Der Fahrer lässt die Seitenscheibe heruntergleiten, hält sein Smartphone aus dem Fenster und fährt dann weiter. Indiana Jones staunt: „Irre. Die Reichweite von dem Poké-Stop geht bis da rüber! Der hat sich grade Items aufgeladen.“

Es ist inzwischen 0:12 Uhr. Knapp zweieinhalb Stunden Pokemon Go liegen hinter uns. Unser geistiger Erschöpfungszustand bewegt sich irgendwo zwischen Matheprüfung und koitus interruptus. Körperlich sind wir eigentlich noch ganz gut drauf. Mit Sicherheit jedenfalls besser als die Milf, die mit ihrem Alten wahrscheinlich jetzt noch planlos durch die Gegend läuft, um ihre zehn Kilometer für das Ei abzuschrubben. Und am Ende schlüpft dann vielleicht nur ein Karpador, während beide von einem Ratzfatz oder gar einem Dragoran geträumt haben.

Zwar gibt es urbane Karzinome, aber leider noch keinen Ultraschall für trächtige Pokémon-Weibchen.

 

1 Kommentar

    • Andreas K. auf 2. August 2016 bei 22:06
    • Antworten

    Hi, feiner Beitrag. Ich habe kein Zeitungsabo und bekomme hier immer alles mit was in M’staedt
    gerade läuft und das kombiniert mit Satire. Da bin ich tatsãchlich informiert und kann auch noch lachen. Bestens und weiter so! Euer Andi

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