Die weiße Religion und ihre Hintergründe

Der Heiland hat Konkurrenz bekommen. Nein, nicht Allah oder Buddha oder die immer zahlreicher werdenden Atheisten. Es sind die Götter in Weiß, denen die Menschen in Scharen zulaufen. Die Gläubigen nennen sich Patienten und hocken oft stundenlang in überfüllten Gebetsräumen herum. Auch in Markranstädt haben sich zahlreiche solcher Sekten etabliert. Wir haben V-Leute eingeschleust, um zu erfahren, was da so abgeht. So viel vorweg: Es ist unfassbar!

Die Religionen sind ebenso vielfältig wie deren Gurus. Sie nennen sich Gynäkologen, Urologen, Internisten, Kardiologen, ja sogar Phlebologen und Dermatologen gibt es. Und doch haben sie alle eine große Gemeinsamkeit mit der abendländischen Ur-Religion des Katholizismus: Man spricht Latein.

Das hat viele Gründe. Wer Latein kann, hat gewöhnlich was auf dem Kasten und man kann ihm daher vertrauen. Auch oder gerade dann, wenn man diese Sprache selber nicht versteht.

Versicherungsvertreter, Immobilienkaufleute oder Banker versuchen daher oft, ihre Latein-Defizite hinter eingedeutschten Anglizismen zu verbergen, Politiker verstecken ihr sinnentleertes Dasein häufig hinter unaussprechlichen Formulierungen in noch unlesbareren Satzungen. Der Arzt hat das nicht nötig.

Der Spionage-Bericht

Das hat auch unser V-Mann bestätigt, der den größten Markranstädter Tempel besuchte. Es ist ein markantes Gebäude in der Eisenbahnstraße und beherbergt gleich mehrere Religionen.

In übertragenem Sinne könnte man bei diesem als „Ärztehaus“ getarnten Sakralbau also durchaus von medizinischer Ökumene sprechen, die dort zelebriert wird.

Zwar kann man im Vorfeld um einen Termin bitten, doch lehrt die Praxis vor Ort schnell, dass man mit einer gewissen Demut gegenüber dem Stundenzeiger wesentlich ausgeglichener durch den Tag kommt.

Man lernt die Entschleunigung kennen und das ist eine der wichtigsten Erfahrungen: Nimm Dir Zeit für das Zwiegespräch mit dem Herrn.

Gebrüllflüsterte Gebete

Im Gebetsraum selbst herrscht andächtige Stille. Doch der Schein trügt. Geprägt durch zahlreiche Gottesdienste, haben sich die Schäfchen im Laufe der Jahre eine Form der Konversation angeeignet, die man nur hier im Vorzimmer seiner Heiligkeit findet.

Es so eine Art verbaler Smoothie aus Brüllen und Flüstern. Ja – brüllflüstern ist wohl der richtige Ausdruck.

Man lässt dazu seine Stimmbänder locker baumeln und gibt seinen Worten lediglich durch die Kraft der aus den Lungen strömenden Luft einen unverwechselbar sonoren Ausdruck.

Der im Raum versammelten Gemeinde wird damit der Eindruck einer diskreten Verständigung vermittelt, die ausschließlich dem Platznachbarn gilt.

„Ich denke nicht, dass wir diese Blutprobe noch einschicken müssen. Ich frage sie: Waren sie gestern im Holzwurm oder beim Groitzscher?“

Wie immer, wenn es um Religionen geht, klafft jedoch auch hier eine starke Diskrepanz zwischen Glaube und Wissenschaft. In Wahrheit übersteigt die gebrüllflüsterte Konversation vor allem bei weiblichen Patienten sogar die Lautstärke normaler Unterhaltung.

Du bist nicht allein

Und so kann die gesamte Gemeinde Anteil nehmen an den tragischen Einzelschicksalen der im Raum versammelten Gläubigen oder denen, über die auch in deren Abwesenheit gern mal gebrüllflüstert wird. Und wahrlich ich sage euch, ihr seid nicht allein.

Beim Besuch unseres V-Mannes in der Ophthalmologischen Gemeinde (da huldigt man dem Augenlicht) sitzt ein älteres Ehepaar bei der Andacht. Das Brüllflüstern der Dame hätte sogar den Pegel einer Zimmer-Flak übertönt.

Sie: „Mer genn scha danaach glei nochma zum Eiermann gehn!“

Die anwesende Gemeinde blickt ob der plötzlichen Ruhestörung erschrocken auf.

Er: „Ja.“

Kurze Pause.

Sie: „Na … oder mer gehn glei bei Neddo?“

Er: „Ja.“

Es folgt eine längere Pause, in der die Aufmerksamkeit des Auditoriums nachzulassen droht. Doch plötzlich ergreift die Grauhaarige wieder das Wort.

„Awor da gibbts geene Eier!“

Die schlummernde Gemeinde schreckt erneut hoch und lenkt ihre Blicke zum Quell der Konversation.

Er: „Ja.“

Hier und da wird das Antlitz der Patienten von ersten Anzeichen aufkommender Heiterkeit gezeichnet. Die Tür zur Sakristei öffnet sich und eine weiß gekleidete Ministrantin ruft: „Herr Beyer bitte!“ Darauf erhebt sich eines der wartenden Geschöpfe und schreitet mit stoischem Gleichmut zu seinem Inquisitor.

Erneut tritt Ruhe ein.

Sie: „Hat die jetzt Beyer oder Meyer gerufen?“

Die Aufmerksamkeit der Gemeinde richtet sich erneut auf das Paar, wenngleich man sichtlich bemüht ist, sowohl Interesse als auch Heiterkeit hinter den Hochglanzmagazinen des Lesezirkels zu verbergen.

Er: „Ja.“

Sie: „Wie jetzt, ja? Wasn nu: Meyer oder Beyer?“

Er: „Ist doch egal, kennst ihn doch sowieso nicht. Oder haste den schon mal gesehen, der da grade rein ist?“

Die Frau hält kurz inne, meint dann aber abwesend: „Eichntlich nich…“

Wieder folgt eine kurze Pause. Die plötzlich ruhende Motorik der Dame verrät, dass sie ihre gesamte Körperenergie gerade für den in Gang befindlichen Denkprozess aufbringen muss, was wiederum den Schluss zulässt, dass ihr Satz noch nicht vollendet ist. Das bestätigt sich nur Sekunden später: „…awor mir isses so, als häddsch den schon ma gesehn.“

Er: „Ja.“

An dieser Stelle eröffnet sich dem Beobachter, warum man beim Ophthalmologen ist und nicht beim Dentisten. Die Zähne der Patienten sind jedenfalls alle in Ordnung und manchmal blitzt es sogar golden hinter dem breitgezogenen Grinsen.

Doch die Dame ist mit ihrem Latein noch längst nicht am Ende. „Ich weeß bloß noch nich, wo ich’n hinsteckn soll.“

Nun ist es ihr Mann, der erschrocken zu ihr blickt, während auf den anderen Stühlen die ersten Taschentücher gezückt werden.

Noch immer hat das Mitteilungsbedürfnis der Dame keinen Hafen gefunden, während ihr Mann bereits seit einer Viertelstunde die Versicherungsnummer auf seiner Chipkarte auswendig zu lernen scheint.

Sie: „Was guckste denn immer da druff? Stimmt da was nich? Kannste üworhaubd was erkenn ohne Lesebrille?“

Er: „Ja.“

Sie wühlt in ihrer Handtasche und gibt ihm trotzdem seine Okulare, verbunden mit der Aufforderung: „Na dann setz se och uff!“

Er: „Ja.“

Die kabarettistische Aufnahmefähigkeit der versammelten Gemeinde nähert sich bereits ihrer Obergrenze, als die eloquente Seniorin zur finalen Pointe ausholt.

Sie: „Sach ma, der Beyer da ebm … oder Meyer meinetwechen … jetz weeß’sch, wo ich den schon mal gesehn hab. Vorhin war das. Der is erscht nach uns gekomm. Wieso isn der schon dran? Egon, da musste jetz ma was sachn, das geht so nüsch! Da sitz’n mir morschn frieh noch hier un dor Eiermann hat dann ooch keene Eier mehr.“

Im Antlitz des Mannes breitet sich schieres Entsetzen aus. Instinktiv gleiten seine zitternden Hände schützend in den Schritt. Dann antwortet er resignierend:

„Ja.“

Unser V-Mann muss seine Ermittlungen an dieser Stelle abbrechen, da er andernfalls Gefahr läuft, sich mit Verdacht auf Inkontinenz mit Herzinfarkt unverzüglich zur Andacht eines Kardiologen mit urologischen Kernkompetenzen begeben zu müssen.

Noch während er dem Gemeindesaal den Rücken kehrt, wird ihm jedoch gewahr, dass im Brüllflüsterton auch gelacht werden kann. Was aus dreißig Kehlen allerdings dann doch wieder wie tosender Beifall klingt. So beglückt, bahnt sich unser Mann seinen Weg in die Freiheit. Dieser führt in diesem Tempel jedoch durch eine Art Vorhalle, in der ein Basar lauert.

Hier wird von vielerlei Weihwässern über Reliquien bis hin zu pharmazeutischen Paramenten das gesamte Spektrum religiöser Sakramente feil geboten. Auch Souvenirs von anderen Religionsanbietern wie der BARMER oder der AOK locken die nach Genesung lechzende Seele des Passanten. Der unter der Bezeichnung Apotheke geführte Raum ist eine Art begehbare Monstranz, in der man den heimischen Altar sowohl gegen kassenärztliche Ablassbriefe als auch Bares aufrüsten kann. Sogar Reliquien der Heiligen Marihuana solls da jetzt geben. Die Verkaufsstrategie erinnert dabei an die Süßwarenstände vor Supermarktkassen, aber was tut man nicht alles, um St. Medicus milde zu stimmen.

Draußen angekommen, trifft unser V-Mann auf unsere V-Frau, die zeitgleich den Gottesdienst der Gynäkologischen Gemeinde besucht hat. Ihre Erfahrungen sind mit denen des V-Mannes nahezu identisch, wenngleich sich die Gynäkologen scheinbar doch noch etwas mehr auf die historischen Wurzeln ihres Glaubens besinnen.

Alle Patientinnen waren traditionell mit Röcken bekleidet, es soll sogar einen ordentlichen Beichtstuhl geben und auch die peinliche Befragung, die der Erteilung des abschließenden Segens vorangeht, soll der weltlichen Halsgerichtsordnung aus dem Mittelalter nur wenig nachstehen.

Was bleibt als Fazit? Nun, zumindest was die Gottheiten mit Stethoskop angeht, muss man sich um die religiöse Vielfalt in Markranstädt keine Gedanken machen. Es gibt für jede Glaubensrichtung ausreichend Angebote und Alternativen.

Wem eine Darmspiegelung nicht reicht, dem hilft dann eben eine Wurzelbehandlung und gegen Aufpreis für einen Kurzschluss kann man vielleicht sogar unter einem EEG bei 220 Volt einen Höllen-Trip erleben.

„Gleich werden sie wissen, was wirklich Schmerzen sind. Machen sie den Mund weit auf und beißen die Zähne fest zusammen!“

Auf alle Fälle sollte man aber ausreichend Geduld mitbringen und die Zeit im Wartezimmer als das hinnehmen, was sie ist: Kabarett für lau. Und nein, Du hast keine Schmerzen. Es ist nur dolor, der Dich quält. Also stell Dich nicht so an und genieße den Tag.

Liebe Leserinnen und Leser, nach diesem interdisziplinären Exkurs in die religiöse Vielfalt unserer medizinischen Versorgung wollen wir Ihnen anheim stellen, sich mit einem ganz Großen des satirischen Fachs zu beschäftigen. Der Leipziger Autor André Herrmann hat sich in seinem Blog ebenfalls mit der Konsultation eines Arztes beschäftigt und was er darüber in die Tasten gehämmert hat, ist auf dem Wege, Weltliteratur zu werden. Es ist nur ein kurzer Dialog, aber die Lektüre lohnt sich. Klicken Sie einfach hier und lesen Sie, was nicht nur Radprofis nicht passieren sollte. Viel Spaß!

2 Kommentare

  1. 🙂 🙂 🙂 🙂

    Ich kann nicht mehr, ABER sagt mal habt Ihr euren V-Mann nicht mal im Erdgeschoß rechts eintreten lassen? Denn dass hätte mich ja doch mal interessiert was euch dazu ein und aufgefallen wäre.

    Jedenfalls ist der heutige Tag mit Lachen und grinsen gesichert.
    DANKE dafür,

    1. Der Beitrag ist eigentlich auch noch gar nicht zu Ende. Da kommt noch ein zweiter Teil … in den nächsten Tagen.

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