Triumph des Willens: locker einkaufen, entspannt bezahlen

Das Leben wird mit jedem Tag einfacher. Nur für wen, das ist die Frage. Oder wissen Sie Ihre 22-stellige IBAN inzwischen schon auswendig? Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Allein für die Banken ist der Fortschritt gemacht. Das gilt auch für andere Profiteure unseres Lebens. Schleichend und geradezu unbemerkt hat sich das stete Wachstum breit und uns zu seinen Sklaven gemacht. Sogar unsere Dienstleistungen an uns selbst erbringen wir inzwischen selbst und bezahlen andere sogar dafür. Ohne es zu merken.

Seinen Höhepunkt findet der Dienst am Kunden im Einkaufsmarkt. Das ist harte Knochenarbeit am Fließband. Während mir die Stimme aus einem Lautsprecher „entspanntes Einkaufen“ wünscht, piept die Kasse rhythmisch im Millisekunden-Takt.

Die Arme der Kassiererin nehme ich nur als Propeller wahr. Aus dem Augenwinkel freilich, weil ich hektisch Joghurtpackungen raffe, Chipstüten und Suppendosen in meinen Rucksack poltern lasse und den wegen meiner Langsamkeit daneben fallenden Rest aus Zeitnot einfach in den Wagen werfe. Aussortieren muss ich auch noch, weil sich wegen meiner Lethargie die Einkäufe der nächsten Kundin schon über meine geschoben haben.

Das Finale eines mehr oder weniger entspannten Einkaufs ist zu einem Hochgeschwindigkeitsrennen geworden, bei dem immer die Kassiererin siegt. Und das lässt sie Dich auch merken. Gnade Dir Gott, wenn sich der Haufen hinter dem Scanner so weit auftürmt, dass sie das Band anhalten muss! Den Blick, den sie Dir zuwirft, hat sie in einem unbezahlten Wochenend-Seminar erworben, der unter der Leitung einer professionellen Domina stand.

Aber ich bin zwar eine Frau, doch trotzdem lernfähig. Gestern habe ich die Chance genutzt, um meine Erfahrungen auszuspielen und den Spieß umzudrehen. Drauf gekommen bin ich, als ich die Waren aus dem Korb auf das Band packen wollte. Zuerst die Dosen, damit ich sie anschließend ganz unten in die Tasche packen kann und nicht wieder die frischen Landeier zerquetsche.

Dosen auf der Flucht

Die ersten beiden Dosen habe ich bereits auf dem Band und bin für die Wasserflaschen schon wieder in meinen Wagen getaucht. Als ich mich aufrichte und sie ebenfalls auf das Band legen will, sind meine Dosen plötzlich verschwunden. Verzweifelt blicke ich um mich, um den Dieb zu identifizieren. Da plötzlich sehe ich, wie meine Suppen ganz hinten am Horizont schon auf die Kasse zufahren. Dazwischen gähnend leeres, schwarzes Band von einer Länge, dass man die Erdkrümmung wahrnehmen kann.

Entspanntes Einkaufen ist nur noch durch entspanntes Bezahlen zu toppen.

Im Grunde genommen habe ich jetzt nur zwei Alternativen. Möglichkeit eins: Ich hebe den Wagen an und kippe dessen Inhalt aufs Band, um die Kassiererin nicht noch weiter zu erzürnen. Möglichkeit zwei: Ich mache das, was mir der Lautsprecher empfiehlt und setze meinen Einkauf entspannt fort. Letztere gefällt mir besser. Ich atme tief durch, beruhige meinen Puls und packe gemächlich aus. Schließlich habe ich das Recht dazu.

Auch die Kassiererin atmet hörbar durch, wenngleich das auf sie eine weniger beruhigende Wirkung zu haben scheint. Ich unterbreche kurz und lächle sie aus der Ferne an. Sie quittiert mein freundliches Antlitz und bittet mich mit dem Wagen nach vorn. „Da kann die Frau hinter ihnen auch schon auspacken“, meint sie.

Das tu ich gern, rolle meinen Wagen zu ihr nach vorn und setze dessen Entleerung aufreizend lasziv fort. Der rollende Drahtcontainer ist aber noch nicht zur Hälfte ausgepackt, da kommen schon die ersten Waren meiner Nachfolgerin angefahren. Landnahme auf dem Gummiband!

Ich richte mich ruhig auf, sehe der Kassiererin in die Augen und frage: „Und nun?“ Sie bittet mich, ihr meine Waren direkt in die Hand zu geben. Mach ich doch glatt, zumal ich ihr so mein Arbeitstempo aufzwingen kann und mich nicht nach ihrer Hektik richten muss.

Alles reine Physik

Es bleibt trotzdem alles reine Physik. Wo ein Körper ist, kann ein zweiter nicht sein und im Umkehrschluss kann sich ein Körper nicht zugleich an zwei Orten befinden. Da ich noch immer mit dem Auspacken beschäftigt bin, kann ich demnach nicht zugleich wieder einpacken und so türmt sich hinter dem Scanner bereits ein eindrucksvoller Haufen meines Wochenbedarfs an Haushaltswaren und Nahrungsmitteln auf.

Ein Old-Mobile aus längst vergangenen Tagen. Heute sind die Einkaufswagen viel größer und tiefer, deshalb muss es auch an der Kasse viel schneller gehen.

Ich warte gespannt, welche Lösung mir die Dame jetzt anbietet. Vielleicht legt sie am Band den Rückwärtsgang ein, um Platz zu schaffen? Schon sehe ich im Geiste meine Nachfolgerin mit ihrem Korb nach hinten flitzen, um die über die Klippen stürzenden Apfelsinen, Eier und Mehltüten aufzufangen. Schade, einen Rückwärtsgang haben die scheinbar nicht in ihrer digitalen Welt, in der es nur darum geht, dass sich der Kunde möglichst schnell selbst abfertigt.

Die Kundin hinter mir hat ein Einsehen und schiebt ihre großzügig ausgebreiteten Waren etwas zusammen, damit mein restlicher Wageninhalt vor ihren Einkauf passt. Danach begebe ich mich ans Ende der Kasse und beginne mit dem Einpacken. Das Schwere zuerst, was ich durch sorgfältiges Abwägen in meinen Händen sicherstelle, während die Kassiererin wiederholt tief durchatmet.

„Macht einundvierzig fuffzich“, brummt mich die Frau an. Ich zücke meine Börse, lasse den Fünfziger aber erst mal stecken. Satt dessen ein Zwanziger, ein Zehner und ein Fünfer, danach zähle ich das Kleingeld auf den Teller.

Doch auch dessen Vorräte sind nach gefühlten zwei Minuten bei 39,83 € erschöpft. „Oh, geht doch nicht“, sage ich mit aufrichtigem Bedauern, kehre ein Kilo Münzen sowie die drei überflüssigen Scheine wieder vom Tisch und überreiche ihr mit einem freundlichen Lächeln den Fuffi.

Triumph des Willens!

Ich habe gewonnen! Ich bin die erste Kundin in ganz Markranstädt, die eine Kassiererin bezwungen hat! Aber das Gefühl des Triumphes will sich nicht einstellen. Das liegt wohl am Gesichtsausdruck der Dame, die mir jetzt plötzlich richtig leid tut. Sie hat sich sogar bei mir entschuldigt und gemeint, sie habe leider vorgegebene Taktzeiten einzuhalten. Die Beeps ihrer Kasse würden sogar stichprobenartig mitgezählt.

Impressionen von der Kundenarbeit am Fließband.

Die „Woche der Gerechtigkeit“ im ARD-Fernsehen noch frisch im Bewusstsein, antworte ich der Sekundensklavin an der Kasse, dass ich das trotzdem ungerecht finde. Schließlich ist sie immer im Zeitvorteil, da sie die Waren nur ein paar Zentimeter über den Scanner schieben muss, während ich mit den Produkten im gleichen Tempo viel weitere Wege zurückzulegen habe. Und das sogar mal zwei, da ich sowohl aus- als auch wieder einpacken muss.

Hat gewirkt. Jetzt hat auch sie Mitleid mit mir. Wir sind beide Opfer des Wachstums und Fortschritts. Sklaven des Big Brother, der hier irgendwo hinter einer Glaswand sitzt und die Beeps der Kasse auswertet. Und der wird erst zufrieden sein, wenn sich diese Beeps zu einem einzigen und zugleich möglichst kurzen Ton addieren, so wie früher im Fernsehen nach Sendeschluss.

Die Kassiererin ist meine Kollegin

Es steckt System dahinter, dass die großen Supermärkte ihre Kunden mitarbeiten lassen. Und genau so wie richtige Mitarbeiter, haben die Kunden dann Zeitvorgaben einzuhalten, damit das Unternehmen Gewinn abwirft. Ist ja logisch.

Ohne dass ich es weiß, bin ich also schon seit langem in einer Festanstellung beim Discounter. Meine bisherigen Zweifel an den Statistiken des Arbeitsmarktes, wonach die Zahl der Arbeitslosen jeden Monat auf ein neues Rekordtief sinkt, sind damit ausgeräumt.

Jawollja, selbst ich habe einen Job! Ich kann mir sogar täglich neu aussuchen, ob ich bei Edeka, Rewe, Lidl oder Netto arbeite. Und der Clou: Die müssen mich nehmen! Genau das ist die Freiheit, für die ich im Herbst ’89 auf die Straße gegangen bin. Hat zwar ein paar Jahre gedauert, bis ich es begriffen habe, aber jetzt weiß ich: Es muss einem nur richtig erklärt werden, das mit der Freiheit.

 

2 Kommentare

    • Nachbar auf 22. November 2018 bei 8:04
    • Antworten

    Schöner Artikel, nur das mit der Bezahlung für die Arbeit lässt einen doch Grübeln 😉

    • jabadu auf 21. November 2018 bei 21:05
    • Antworten

    Super beschrieben, genau so ist es. Da hat ja die Kassiererin noch Glück gehabt, dass sich Frau Kundin nicht noch ihren Mindestlohn hat verrechnen lassen. Wie? Indem Frau ihr einen „Aktendulli“ voller Rabatt- und Punktekarten für alle möglichen Waren des täglichen Bedarfs auf den Kassentisch klatscht und sie bittet, diese doch mal durchzuschauen ob da was geht. Da ist locker mal ein Verdoppeln der Sammelpunkte drin. Und dann hoch die Tassen. Lasst uns die Freiheit genießen.

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