Das war schon eine kuriose Szene, die sich am Mittwochvormittag in der Marienstraße zutrug. Mitarbeiter des Mehrgenerationenhauses versuchen verzweifelt, den Vorsitzenden ihres Fördervereins am Leben zu halten. Der conora-positiv getestete Pädagoge oxidiert seit voriger Woche nicht nur in häuslicher, sondern auch in gesellschaftlicher Absonderung einsam vor sich hin. Von Hunger gezeichnet und vom Gesundheitsamt vergessen, wird er jetzt per Korb an einem aus zwei Spanngurten und einem Schal bestehenden Strick im wahrsten Sinne des Wortes online versorgt.
So viel vorweg: Dem beliebten Ex-Chef des Gymasiums geht es gut. Zwar spürt er die Viren in den Muskeln und Knochen, aber sein Verstand wurde nicht angegriffen.
Schlecht für ihn, weil er dadurch live mitbekommt, an welchen Stellen unser Gesundheitssystem versagt. Gut für die Satiriker, weil René Schulz dadurch auch seinen Humor nicht verloren hat. Ein wichtiges Kriterium für das Zustandekommen der folgenden, echt wahren Story.
Die Vorgeschichte liest sich wie tausende andere Infektionsmärchen erst mal recht plausibel. Ein positiver Schnelltest ließ ihn seine Schritte gen Arzt lenken. Dort wollte man den Test gar nicht erst sehen, sondern unterzog ihn gleich einem PCR-Test.
Telefonisch per Brief
Der Infizierte wunderte sich nur, dass man nicht mal seine Telefonnummer haben wollte. Man dürfe sie aus Gründen des Datenschutzes sowieso nicht weitergeben, wurde ihm gesagt.
Um an das Ergebnis seines PCR-Testes zu gelangen, müsse er zu Hause sein Internet anwerfen und all den Hinweisen folgen, die dort für ihn bereitliegen. Bis dahin habe er sich unverzüglich in „häusliche Absonderung“ zu begeben und seine Wohnung nicht mehr zu verlassen.
Also hat der Patient ebenso geduldig wie eremitabel gewartet und wurde schließlich im Internet fündig. In seinem Corona-Zertifikat wurde er zugleich darauf hingewiesen, dass er sein Zuhause nicht verlassen darf und in Kürze vom Gesundheitsamt zwecks weiteren Vorgehens telefonisch kontaktiert wird.
An dieser Stelle endet das Präludium des Dramas.
Während das Corona-Opfer tagelang neben dem Telefon ausharrt und auf die Tagesordnung aus Borna wartet, wird der Kühlschrank gähnend leerer und das Essen knapp.
Was sein Arbeitgeber gemeinsam mit einigen seiner einstigen gymnasialen Kollegen in Sichtweite seines Exils nicht hingemobbt bekamen, scheint dem fernen Gesundheitsamt jetzt im Handstreich zu gelingen: Der Pädagoge wird systematisch ausgehungert!
Als ihm in einem lichten Momente aufging, dass das Amt ihn mangels Kenntnis seiner Rufnummer gar nicht anrufen kann, schleppte er sich mit letzter Kraft ans Telefon und kontaktierte die Corona-Hotline des Landkreises von sich aus.
Comedy vom Amt
Zwar hätte er sich diesen Akt auch sparen können, allerdings wäre den Satirikern dann das an heiteren Elementen nicht mehr zu übertreffende Ende der Story entgangen. Die Antworten der Hotline-Beauftragten waren im Grunde genommen nichts anderes als eine Kapitulationserklärung unseres Gesundheitswesens.
Ja … also … einen Anruf vom Gesundheitsamt könne er jetzt nicht direkt erwarten, sei ihm mitgeteilt worden. Vielmehr würde man ihn anschreiben, weshalb ihm ein Gang zum Briefkasten nahegelegt wurde.
Daraufhin fragte der Patient: „Ähm … ich wohne im vierten Stock und der Briefkasten befindet sich ganz unten im Haus. Wie soll ich das machen, wenn ich die Wohnung nicht verlassen darf?“ Eine Antwort blieb ihm die Hotgelinerte allerdings stoisch schuldig. Auch auf die Frage „Noch dran?“ habe sie sich zu keinerlei ratgebenden Information hinreißen lassen.
Nicht anders entwickelte sich die Informationslage bei der Frage nach dem Überleben. Als alleinstehend in einem Dachgeschoss ohne Nachbarn existierendes Individuum, das zu allem Unglück über kein Paypal-Konto zur bargeldlosen Vorabbezahlung unterbezahlter Lieferando-Lieferanten verfügt, ist er mit Ausnahme des Wasserhahns von allen anderen Lebensadern unserer modernen Gesellschaft abgeschnitten. Wie soll er an Lebensmittel kommen? … „Noch dran?“
Aber zum Glück gibt es da in Markranstädt noch die guten Seelen vom MGH. Gudrun Weber ließ sich nicht zweimal bitten, sich mit einem Körbchen auf den Weg durch den Markranstädter Stadtforst zu machen. Im Umgang mit den Wölfen dieser Stadt gestählt, erreichte sie schließlich ungeplündert die Marienstraße. Die Fragen nach den großen Ohren, großen Augen und dem großen Mund erübrigte sich beim Anblick des 2,13-Mannes, dessen Torso sich in 14 Metern Höhe über die Balkonbrüstung neigte.
Weil zwei ausgewachsene Spanngurte, ein Mitbringsel vom Polenmarkt im letzten Sommer, nicht ausreichten, flocht der findige Lehrer noch den Schal daran, der eigentlich für den Suizid gedacht war, falls das mit der Essenslieferung nicht klappen sollte. Es öffnen sich immer irgendwelche Türen, grade vor Weihnachten.
Eine gerettete Seele mehr in diesen adventlichen Corona-Tagen, an denen wir uns so gern an die Vergessenen unserer Gesellschaft erinnern, die wir allerdings traditionell unter Brücken oder in Bahnhofsunterführungen erwarten würden. In diesem Sinne: Allen Infizierten, Gesunden, Geimpften und Ungeimpften schöne sowie friedliche neun Tage bis Heiligabend oder wenigstens bis zur Aufhebung der Quarantäne.
14 Kommentare
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Wie kommt unser Direktor über die Weihnachtsfeiertage ? Ich würde auch ein Körbchen zusammenstellen, hoffentlich funktioniert die Klingel.
Geben Sie uns bitte rechtzeitig Bescheid, wenn Sie diese edle Tat zu vollziehen gedenken. So viel Herz zur Weihnachtszeit, daran sollten auch unsere nach Frieden lechzenden Leser teilhaben können. Die Linse ist schon poliert.
Das Markranstädter Rotkäppchen ist sowieso das Beste, weil es nämlich dem Märchenbuch entstiegen ist u. leibhaftigen Kontakt zu allen Bedürftigen unserer Stadt hat. Es gehört vom Grimmschen Märchenbuch ins Goldene Buch des Weihnachtsmannes!
Dann schreiben Sie doch dieses Märchen einfach mal auf! Wir veröffentlichen es auch. Muss allerdings den Regeln entsprechend gegendert sein. Der Rotkapp/die Rotkäppchenin und der Wolf/die Wölfin und so weiter…
Gute Besserung von Dachgeschoß zu Dachgeschoß an den Pädagogen, spätestens jetzt sollte klar sein, daß man nicht nur einen langen Torso zum Überleben braucht, sondern auch Spanngurte vom Polenmarkt. daß die sonst so geliebte hohe Wohnung unter bürokratischen Bedingungen zum Sarg werden kann. Halte durch, ich wünsche Dir einen genauso langen Atem wie Dein Torso schon ist und möge Dein Internet nicht schwächeln!
Sarg-Wohnung mit Internet – da wird einem erst mal sie doppelte Bedeutung des Wortes Flat bewusst. Die einzige WG, in der alle eine Erdgeschosswohnung haben, befindet sich ganz hinten in der Lützner Straße. Die brauchen da auch kein Internet – da gibts einen direkten Link zur Cloud. Gebets-Flat sozusagen.
Wunderbar aufgezogen liebe MN!
…Wahre Größe! Jaaa- Er lebt noch! Scheinbar wohnen all die Verordnungsverfasser gemeinsam in Eigenquarantäne und wohlversorgtem Lieferando-Büro/Mini-(ster)-strantenkomplex mit äußerem Strom- und Notstrom betriebenem Coronaaufzug zur Eigenversorgung. Brauchen auch kein Plastegeld- übernimmt der Steuerzahler! Bürgernähe eben.
Er kann ja demnächst in den Bahnhof umziehen. Da gibts bald einen steuerfinanzierten Aufzug. Wie gesagt: In größter Not öffnen sich immer irgendwelche Türen.
Das ist an Komik leider nicht zu übertreffen! Wenn das Thema nicht so ernst wäre, könnte man schallend darüber lachen.
Es ist schon ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft, leider gibt es ja immer mehr Alleinstehende Menschen.
Aber manchmal vielleicht auch intakte Hausgemeinschaften.
Alles Gute für Herrn Schulz!
Wir schließen uns den Wünschen an, denn:
Wer soll nun die Kinder lehren
Und die Wissenschaft vermehren?
Wer soll nun für Schulze leiten
Seine Amtestätigkeiten
Woraus soll der Lehrer rauchen,
Wenn die Pfeife nicht zu brauchen?
Mit der Zeit wird alles heil,
nur die Pfeife hat ihr Teil.
Man stelle sich vor, er wäre 80 und hätte kein Zugang zum Netz oder es wäre Stromausfall oder oder…
aber das ist nicht so schlimm an Hunger zu sterben, Hauptsache nicht an Corona.
Es ist schon sehr absurd, welche Blüten die schlimme Pandemie treibt. Ich frage mich zunehmend was schlimmer ist, Corona oder der Umgang damit.
Vielleicht sollte das Ordnungsamt da beauftragt werden zu fragen, ob es den In häuslicher Haft Befindlichen gut geht oder ob ein Arzt oder Waren des täglichen Bedarfs fehlen.
Oder sind die dafür nicht zuständig?
Ich möchte wissen, wie vielen kein Korb gebracht wird.
Wenn er 80 wäre, hätte er keine Wohnung mehr direkt unter der Wolkendecke, sondern würde mit Fahrstuhlanschluss seniorengerecht im Erdgeschoss sitzen und sich mit seiner ehemaligen Stellvertreterin aus der Bildungseinrichtung gleich nebenan ums Gebiss streiten.
Herrlich. Wenn man Hr. Schulz schon länger und gut kennt, liest sich das nochmals um Längen besser.
… um 2.13 Meter besser – um genau zu sein 😉