Ab jetzt spricht Claus Narr: Neuer MN-Reporter deckt auf!

Wann und wo er nach über 500 Jahren aus dem deutschen Mutterboden geklettert ist, weiß niemand. Fest steht nur: Er ist wieder da! Claus Narren von Ranstedt (*1455 – † 1515), der berühmteste deutsche Hofnarr, geistert wieder durch seine Heimatstadt Markranstädt. Zwar hat er noch ein paar Probleme beim Abgleich seiner Erinnerungen mit dem modernen Zeitgeist, aber das wird schon noch. Die Markranstädter Nachtschichten haben ihn jedenfalls nicht zweimal an die Tür klopfen lassen und ihm sofort den Posten als Chefreporter überlassen. Warum? Seine närrischen Kernkompetenzen, gepaart mit dem in einem halben Jahrtausend gereiften Erfahrungsschatz, könnten uns allen helfen, unsere Vergangenheit besser zu verstehen und damit klarer in die Zukunft zu blicken. Lesen Sie heute seinen Auftakt-Artikel, für den er seine Feder tief in den Weihrauch der Geschichte und Gegenwart getunkt hat.

Hofnarren waren im Mittelalter vielleicht nicht die angesehensten Menschen, wohl aber zählten sie zu den Privilegierten.

Ich habe damals in ganz Sachsen als Einziger über das Recht verfügt, den herrschenden Stand kritisieren und parodieren zu dürfen.

Kretsche versucht’s selber

Heute darf das offenbar jeder. Nicht einmal Kurfürst Michael I. aus dem Geschlecht der Kretschmers erachtet es mehr als nötig, sich einen Hofnarren zu halten. Einerseits, weil er selbst die besten Kalauer liefert, andererseits werden die zur Belustigung dienenden Höflinge heutzutage nicht mehr vom Adel eingestellt, sondern ihnen in freien Wahlen vom Volke aufs Auge gedrückt.

Zeitenwandel im Ratssaal

Wie im Großen, so auch im Kleinen: Was waren das früher noch für Zeiten, als sich in Ranstedt die Ratsherren zum Konzile trafen. Vorn saßen der Lehnsherr mit den Seinen, doch an seiner Flanke hatte noch vor dem Schatzmeister, dem Baurat, den Vertretern der Gilden und dem Senator für Inquisition (ein Vorläufer des heutigen Gleichstellungsbeauftragten) der kommunale Narr Platz genommen.

Das Mikro als Narrenglöckchen

Wie ich jüngst in diesem seltsamen KuK-Bau feststellen musste, gilt diese Sitzordnung auch heute noch. Allerdings ohne die vorher genau festgelegte Funktion des Spaßmachers. Diese Aufgabe wird heutzutage offenbar mit einer Art sprechendem Knochen von Ratsherr zu Ratsherr weitergegeben.

Wer immer meint, etwas zur Belustigung der Runde beitragen zu können, lässt sich den Knochen reichen und spricht seinen erheiternden Wortschatz dort hinein. Eine mir noch nicht erklärbare, unsichtbare Magie sorgt daraufhin dafür, dass die Botschaft einem Donnerhall gleich für alle im Saal hörbar wird.

Allerdings sind die Pointen derart mäßig, dass die edle Ratsgesellschaft meist das Lachen vergisst und statt dessen die Hände hebt. Diese instinktive Abwehrreaktion wird dann von einem mathematisch bewanderten Sterndeuter erfasst und anschließend feierlich als Zustimmung verkündet.

Beschlussfassung mit Sterndeuter

Auf dieser Grundlage wird dann eine neue Badeanstalt gebaut, ein Aufenthaltsheim für Tageswaisen errichtet oder ein Latifundium an einen feudalen Herzog verkauft, damit er dort ein neues Betätigungsfeld für seine Leibeigenen schaffen kann.

Die freien Spitzen der Tagelöhner

Wenn die Tagelöhner nämlich nicht genug beschäftigt werden, kommen sie auf seltsame Ideen. Das geht mir gar nicht in den Kopf. Was hätten wir uns damals im Mittelalter gefreut, wenn wir mal nicht 14 Stunden am Tag unsere Buckel auf den Feldern der Feudalherren … ähm … und Feudalfrauen hätten krumm machen müssen.

Hätte, Bette, Sklavenkette

Wir hätten Hymnen an den Herrn geschickt, wären in den Betten geblieben und hätten uns dort ganz still verhalten. Damit die armen Seelen, die in der Zeit unser aller Brot verdienen müssen, nichts von unserem Müßiggang mitbekommen und vielleicht noch dagegen aufbegehren.

Das neue Selbstbewusstsein der Müßiggänger

Heute ist das anders. Die arbeitsfernen Schichten des niederen Standes fangen plötzlich an, eine andere Sprache zu sprechen, sie wechseln ihre Geschlechter wie zu meinen Zeiten die Ketzer auf den Scheiterhaufen ihren Aggregatzustand oder ernähren sich freiwillig von Hafergrütze.

Die Evolution der Cerealien

Dass sie diese einseitige Mangelernährung, die uns damals aus den Ohren quoll, heute Müsli nennen und der Fraß plötzlich voller wichtiger Cerealien steckt, hat offenbar wenig Einfluss auf die Entwicklung überlebenswichtiger Hirnfunktionen.

Die Folge: Immer mehr Pöbeln wird immer weniger Kreativität vererbt. Und so malt die Brut dieser Laune der Schöpfung dann die Abbilder der Fragmente ihrer Intelligenz an die Häuserwände des wertschöpfenden Bürgertums.

Die Wandermaler

Diese Erkenntnis hat mich geläutert. Jetzt ist mir klar, warum der Adel schon im dunkelsten Mittelalter immer dafür gesorgt hat, dass für das gemeine Volk genug Arbeit da ist. Andererseits hätte Markranstädts Stadtgeschichte dann vielleicht auch einen ganz anderen Verlauf genommen?

Aus der Geschichte lernen

Ich erinnere mich noch, als wäre es erst gestern gewesen: Als 1633 die Holk’schen Reiter vor den Toren der Stadt auftauchten und das Kaff anschließend niederbrannten, war das überarbeitete Bürgertum völlig wehrlos. Heute würde die Sache anders ausgehen und möglicherweise mit einem Erfolg der Verteidiger enden.

Der Einfall der Reitenden

Die Markranstädter Patrizier würden unter einer bunten Regenbogenfahne eine demokratisch gewählte Abordnung entsenden, die den Angreifern eine sorgfältig artikulierte Sanktionsandrohung überbringt, falls die Reiter weiterhin als Reiter reiten und sich nicht als Reitende zu erkennen geben. Immerhin gibt es im Tross auch Marketenderinnen und Stuten.

Bevor sich Holks Kürassiere auf eine korrekte Sprachregelung verständigt hätten, wären deren Pferde längst verhungert und der Sieg unser.

Harter Lernprozess

Was ich damit sagen will: Es ist für einen Alten wie mich gar nicht so einfach, sich in der neuen Zeit zurechtzufinden. Ein harter Prozess, aber ich will mich ihm aussetzen. Jetzt mache ich erst mal einen Spaziergang durch die Stadt. Mal sehen, was mich da so erwartet.

Keine Angst, Sie verpassen nichts. Ich werde Sie weiter regelmäßig auf dem Laufenden halten. Macht ja sonst keiner.

5 Kommentare

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    • Sascha auf 4. September 2025 bei 6:00
    • Antworten

    Super! Weiter so. Möge uns noch viel von seinem Wissen und seinen Beobachtungen hier zuteil werden.

    • Lachlerche auf 27. August 2025 bei 11:56
    • Antworten

    Eine köstliche Unterhaltung. Meinen Beifall, mein Lachen und meinen verschmitzten Blick hat er!

    1. Da wird er sich aber freuen. Er ist gestern von einem Spaziergang durch die Kernstadt zurückgekehrt und hatte ein fettes Grinsen in seinem schiefen Gesicht. Jetzt sitzt er in der Schreibstube und entbindet eine Reportage – und das ganz ohne Alkohol! Wir sind gespannt.

  1. Ich glaube, das könnte interessant werden. Ein kluger Schachzug, einen längst Verblichenen mit den Errungenschaften unserer Tage zu konfrontieren. An einem Toten prallt der lebendige Shit-Storm der Müßiggänger ab. Ganz neu ist die Idee zwar nicht, aber ein Blick auf die Bestsellerliste der letzten Jahre zeigt, welches Potenzial darin steckt. Ich bin jedenfalls mal gespannt darauf, was der alte Narr so denkt, wenn er beispielsweise in der Dämmerung über den Alten Friedhof schleicht und dort den anderen Geistern begegnet, die aus den Gräbern der Gesellschaft aufgefahren sind. Spuk unterm Baumhaus …

    1. Mal sehen, wie lange er durchhält. Er stammt schließlich aus einer Zeit, in der vieles einfacher war. Dass Damen unter ihren Röcken heute beispielsweise Slips tragen, kennt er noch gar nicht. Was wird er erst denken, wenn er erfährt, dass das Must-Haves sind?

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