Büchlein, Büchlein in der Hand …

Ein Roman als Spiegel der eigenen Heimatstadt? Nicht ganz. Sowohl der Bestseller als auch der Ort der Handlung heißen Unterleuten und Unterleuten liegt nicht zwischen Schkeitbar und Frankenheim, sondern irgendwo in Brandenburg. Tauscht man aber gedanklich den Begriff Unterleuten mit Markranstädt, könnte das zur Folge haben, dass man im Verlaufe der Lektüre auch die Namen der handelnden Personen oder wenigstens der Gruppen durch hiesige ersetzt. Unterleuten: Ein genialer Bestseller für die letzten Sommertage!

Es ist ein „multimediales Gesamtkunstwerk“, das Autorin Juli Zeh mit „Unterleuten“ geschaffen hat. Dazu gehört nicht nur das Buch, sondern inzwischen auch eine Homepage des fiktiven Dorfes Unterleuten samt stetig wachsender realer Fangemeinde.

Auch eine Internetpräsenz des Vogelschutzbundes Unterleuten sowie der Windenergie-Firma gibt es (nur) im Netz und sogar eine Website des Gasthauses samt seiner Speisekarte findet man (nur) im Internet.

Daraus hat sich ein wahrer Hype entwickelt. Selbst in Leipzig kann man unter Leuten hier und da schon Menschen entdecken, die mit einem Bio-T-Shirt des Vogelschutzbundes Unterleuten (ab 23,99 Euro bei spreadshirt.de) rumlaufen. Ein Roman erobert die Gesellschaft.

Fiktive Realität

Was den Reiz des Buches ausmacht, ist dessen fiktive Realität. Unterleuten könnte sich so oder ähnlich in fast jeder ostdeutschen Kommune abspielen. Auch oder gerade in Markranstädt.

Da gibt es die Alteingesessenen, die Zugezogenen und auch die Auswärtigen. Ganz wie in Markranstädt. Und ganz wie hier heißt es auch in Unterleuten: „Ständig glaubten alle, alles zu wissen, während in Wahrheit niemand im Bilde war.“

So kam es schließlich in Unterleuten dazu, dass die Wahrheit nicht das war, „was sich wirklich ereignet hatte, sondern was die Leute einander erzählten.“ Na? Fällt Ihnen was auf?

Wer in der Markranstädter Kernstadt wohnt, könnte sogar beim Lesen einzelner Kapitelüberschriften Gänsehaut bekommen.

So steht der vierte Teil unter dem Titel „Nachts werden sie Tiere“. Die Unterleutener ändern das nicht, sondern arrangieren sich damit, „Tag für Tag, mit dem, was wir für unser Leben halten.“ Oh Heimatstadt, ick hör dir trapsen.

Die Flurkarte von Unterleuten. (Screenshot: www.unterleuten.de)

Der ehemalige Vorsitzende der LPG „Gute Hoffnung“, Spross einer alteingesessenen Gutsbesitzerfamilie, ist heute Chef der Ökologica GmbH.

An den Fäden, die er in seinen Händen hält, hängt (oft ohne dass er es merkt) der Bürgermeister, der seinerseits einige Bürger (oft ohne dass sie es merken) an seinen eigenen Fäden weiß.

Die Unterleutener Gesellschaft lebt nicht nur von Gefälligkeiten, die man sich gegenseitig schuldet, sondern auch von der Einstellung, die man sich selbst zu schulden glaubt.

Mit ihnen oder gegen sie und mit oder gegen alle Einheimischen, Zugezogenen und Auswärtigen geht es in den Kampf für oder gegen einen Windpark. Eigentlich. Aber dahinter steckt mehr.

Der Windpark bildet nur Ausgangspunkt und Requisite für persönliche Schicksale, familiäre Ambitionen, wirtschaftliche Profitgier, die selbstdarstellerische Befriedigung persönlichen Sendungsbewusstseins oder politische Ziele. Hinter der idyllischen Fassade des Dorfes brodelt ein Höllenfeuer.

Am Ende gelangt der Bürgermeister von Unterleuten zu einer Erkenntnis, die nach all den Parallelen zum hiesigen Treiben fast schon wie eine nahende Prophezeiung klingt: „Unterleuten wurde lange genug von alten Männern regiert. Die Zeit der alten Männer ist vorbei.“

Blaupause von Markranstädt?

Unser Tipp: Lesen Sie das Buch so bald wie möglich. Der Bestseller wird zur Zeit verfilmt und wenn der Streifen erst mal über den Bildschirm flimmert, könnte die Bequemlichkeit über die 640 Seiten Prosa gewordener Sozialkunde siegen.

Unterleuten ist ein fesselnder, ernster und ganz, ganz starker Roman. Man sollte und wird ihn, so lange es geht, auch als solchen lesen. Es kann jedoch passieren, dass man irgendwann an den Punkt kommt, an dem man das brandenburgische Unterleuten plötzlich zwischen Floßgraben und Zschampert verortet. Spätestens dann hat man bei der Lektüre auch seine helle satirische Freude. (Eine Leseprobe gibts hier)

 

Schreibe einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.