Was wird sich verändert haben? Kommt man überhaupt noch rein in die Stadt oder baut man inzwischen auch in der letzten noch offenen Zufahrtsstraße? Steht das Sportcenter noch oder ein Klo am Kulki schon? Man ist auf viele Veränderungen gefasst, wenn man nach dem Urlaub wieder nach Hause zurückkehrt. Aber auf die Überraschung, die auch Markranstädt in diesen Tagen bietet, war wohl niemand vorbereitet. Normalerweise geschehen solche Dinge nur in Sicherheitsverwahrung.
Man will sich am liebsten kneifen beim Blick auf die Straßen und Plätze der Stadt. Kids und Teens wohin das Auge reicht. Einzig deren Hautfarbe verrät, was sie eint: Ihre Gesichter, Ärmchen und Waden blenden den Betrachter im Weiß frisch gebleichter Kellnerjacken.
Der Insider weiß, dass es sich um die so genannte „Gamer-Bräune“ handelt; ein medizinisches Phänomen, das dem Mangel an ultraviolettem Licht in deutschen Kinderzimmern geschuldet ist. Nun also haben die Kids und Teens ihre Keller verlassen und der Rest der Menschheit fragt sich, welche umwälzende gesellschaftliche Veränderung dafür verantwortlich zeichnet.
Schon beschäftigt sich die populärwissenschaftliche Sendung „Terra Y“ mit der Frage, was die Gamer im Jahr 2016 dazu bewog, ihren natürlichen Lebensraum so plötzlich aufzugeben und sich den evolutionären Gefahren der frischen Luft auszusetzen?
Wissenschaft steht vor Rätsel
Die Antwort klingt überzeugend, macht aber der Altersklasse jenseits der Smartphone-Generation Angst: Pokemon Go! Es sind kleine, meist gelbe Wesen, die unsere Kinder und Enkel aus den sicheren Mauern ihrer heimischen Chill-Zonen locken. Sie zählen zur Rasse der Pokémons, hören auf Namen wie Pikachu, Bisasam oder Glumanda und sind für Normalsterbliche, die mit dem Handy nur telefonieren können, absolut unsichtbar.
Und genau das ist der Grund, warum die reifere Generation mit Sorge auf das eigentlich freudige Ereignis der Frischluftaktivitäten unserer Jugend blickt. Gammelfleisch, Abgasskandal und Flüchtlingswelle waren ja wenigstens noch irgendwie sicht- oder zumindest gefühlsmäßig greifbar. Aber die gelbe Gefahr aus Japan überrollt den Globus von Markranstädt sozusagen in einer Parallelwelt.
Die Oma auf dem Traunfugil
Wer sich beispielsweise angesichts der tropischen Temperaturen am Alten Friedhof im Schatten einer Platane auf einer Parkbank niederlassen möchte, kann nie wissen, ob da nicht schon so ein Pokémon drauf sitzt. Man merkt es erst, wenn man von einer Horde Jugendlicher umzingelt und mit den Worten „Ey Omma, heb dich mal kurz an, du sitzt auf einem Traunfugil!“ zum Aufstehen genötigt wird.
Sie lachen? Das wird Ihnen bei der Lektüre der folgenden Zeilen wahrscheinlich im Halse stecken bleiben. Seit dem Start des Spiels am 7. Juli hat sich der Börsenwert von Nintendo nahezu verdoppelt. Allein am vergangenen Freitag brach der Konzern laut SPIEGEL den bisherigen Rekord für die höchste Zahl an Aktien, die innerhalb eines Tages in Japan gehandelt wurden. Mit einem Börsenwert von mehr als 37 Milliarden Euro zog Nintendo zudem auch am Konkurrenten Sony vorbei.
Und das alles mit ein paar kleinen, gelben Monstern, die es in Wahrheit gar nicht gibt. Da muss man die reale Welt wirklich nicht mehr verstehen. Bestenfalls den Grund, warum der Begriff „Wertschöpfung“ auf der roten Liste der vom Aussterben bedrohten Worte steht, sollte man spätestens jetzt verinnerlicht haben und wissen, warum die Inhalte betriebswirtschaftlicher Studiengänge heute darauf fokussiert sind, dass die Arbeitskraft generell zu teuer ist.
Allerdings gibt es auch durchaus positive Aspekte. Was Wissenschaftler aller Genre, Mediziner, Lehrer und Eltern bislang vor unlösbare diagnostische wie auch therapeutische Aufgaben stellte, hat der Nintendo-Konzern allein mit „Pokémon Go“ gelöst: Die Kids und Teens kommen ans Licht.
Dieses Video zeigt Ihnen in nur einer Minute, worum es geht. Dass man hier sogar ernsthaft von „sozialen Kontakten“ spricht, sollte Sie nicht verunsichern. Sowas hat man heute nur noch mit Wesen, die nicht von dieser Welt sind.
Und endlich kann auch der unter psychotisch auffälligem Kontrollzwang stehende Staat erstmals zumindest optisch in etwa abschätzen, wieviele Kreaturen sich da in den letzten Jahrzehnten seiner Obhut entzogen haben – in Kellern, Kinderzimmern und selbst geminecrafteten Gaming-Zonen.
Raus aus den Kellern!
Mehr noch, die jungen Menschen finden Dank Pokémon sogar wieder zu den religiösen Wurzeln unseres zuletzt so gebeutelten Abendlandes zurück. Denn was selbst Pfarrer Zemmrich kaum wissen dürfte: St. Laurentius ist ein in der Region recht bekannter und beliebter Pokéstop. Das ist sowas wie die Boxengasse bei der Formel 1. Hier kann man Items aufladen, wie beispielsweise Pokébälle, Beeren und andere überlebenswichtige Dinge.
Ein Quaspel im Schlafzimmer
Die Entwicklung des Spiels hat sicher noch längst nicht ihre Grenzen erreicht. Noch können die Programmierer nicht unterscheiden zwischen privatem und öffentlichem Spielgelände. Es kann also gut und gerne passieren, dass Sie nachts in Ihrem eigenen Schlafzimmer von ein paar Teens geweckt werden, weil ein Quaspel unter Ihrem Kopfkissen liegt. Zur Information: Das ist ein Wasser-Pokémon und die halten sich gern in der Nähe von Seen auf.
Man könnte den Hype jedoch auch pädagogisch nutzen und ihn mit einer Form subalternativer Wertschöpfung verbinden. Mit Hilfe einer Beta-Version könnte es beispielsweise schon im September gelingen, Pokémons im Garten unter der Erdkruste zu verstecken.
Die unsichtbaren Erntehelfer
Da braucht man nur noch ein paar Spaten hinzustellen und bereits am nächsten Tag ist die Herbstfurche fertig. Gegraben von Jugendlichen aus der Region, ganz freiwillig und sie hatten sogar Spaß dabei.
Der Fortschritt lässt sich sowieso nicht aufhalten und das Wachstum sucht sich stetig neue Räume. Längst hat Pokémon Go schon die reale Welt der Erwachsenen erreicht. Und weil es denen einfach zu peinlich ist, bei der Jagd nach imaginären gelben Viechern erwischt zu werden, frönen sie dem neuen Hobby unter dem Deckmantel steinzeitlicher Relikte aus längst vergangenen Epochen.
Pokémon Go auch für Erwachsene
Oder glauben Sie wirklich, dass ein moderner Mensch im Zeitalter von Rolltreppen, Schrittzählern und Wii-Sports auf die Idee kommt, allein aus sportlichem Ehrgeiz nachts um 9 Uhr aufzustehen, um ab 11 Uhr am Kulki erst anderthalb Kilometer zu schwimmen, dann deren 40 mit dem Rad zu fahren und abschließend auch noch 10 Kilometer zu rennen?
Nein, da muss mehr dahinter stecken, hinter dem 33. Leipziger Triathlon am kommenden Wochenende. Es kann nur so sein, dass da unterwegs hunderte gelber Pokémons lauern, die nur darauf warten, entdeckt und eingesammelt zu werden. Wir sollen zwar glauben, dass dem Sieger eine Medaille umgehängt wird, doch in Wahrheit bekommt er einen Pikachu. Wir können ihn nur nicht sehen.
2 Kommentare
Toller Artikel, vielen dank für die Informationen. Finde es grausam das jugendliche heutzutage ihr Handys nicht aus der Hand lassen.
Nun verlieren Sie nicht gleich allen Mut und den Glauben an die Menschheit. Ist doch nur Satire. In Wahrheit siehts doch so aus, dass sich kaum noch jemand wagt, im öffentlichen Raum auf sein Handy zu gucken, weil man ihn sonst für einen Pokémon-Jäger halten könnte.