Spieglein, Spieglein in der Hand…

Manchmal muss man als Journalist sowas wie Visionen haben. Gerade dann, wenn es um Fußball geht. Weil man in Hamburg in Bezug auf den HSV zur Zeit gar nicht so viel Visionen wie nötig aufbringen kann, haben sich die SPIEGEL-Redakteure aus gegebenem Anlass auf einen anderen Verein gestürzt. Der SSV Markranstädt wurde in der jüngsten Ausgabe zum bundesweiten Thema. Sowohl faktisch als auch postfaktisch gab es zwar nichts Neues, aber allein die Beschreibungen der handelnden Personen hätten gestandene Satiriker nicht eindrucksvoller formulieren können.

Auslöser des SPIEGEL-Artikels war wohl der Gipfel in München, bei dem die bajuwarischen Lederhosen-Toreros die roten Bullen aus Sachsen-Österreich bis zur bedingungslosen Kapitulation durch die Allianz-Arena hetzten. Dass die Begegnung so deutlich für Hausherren ausgeht, konnten natürlich auch die SPIEGEL-Journalisten nicht ahnen.

Denen reichte wohl schon die sich bereits im November herauskristallisierende Verheißung, dass da kurz vor Weihnachten der Tabellenführer gegen seinen Ersten Beigeordneten spielt.

Immer wieder RB, das wird aber langweilig. Also besann man sich in Hamburg auf die Wurzeln der Roten Bullen und warf mal wieder einen Blick in deren Kälberstall. So kam es Anfang Dezember an verschiedenen Orten in Markranstädt zum großen Showdown.

Macher, Muckis & Moneten

In seinem Büro durfte Holger Nussbaum seine SSV-Memoiren in die Notizblöcke der Hamburger diktieren, im Rosenkranz wurde Volker Kirschner empfangen und auch eine im SPIEGEL-Artikel nur kurz am Rande erwähnte Person unterzog sich in diesem Zusammenhang einem journalistischen Verhör.

Wie schon erwähnt: Neuigkeiten waren Mangelware, abgesehen von der Aussage Nussbaums, dass er im Juni 2015 in der Tat von der 1:4-Heimniederlage beim Relegationsrückspiel gegen Luckenwalde überrascht war.

Zur Erinnerung: Der Spielverlauf damals gab andere Zutaten in die Gerüchteküche. Fünf Stammspieler und der Trainer hatten vor der Relegation bereits bei anderen Vereinen für die nächste Saison unterschrieben und ausgerechnet einer der fünf Fremdgänger leistete den Markranstädtern mit einer roten Karte schon in der 19. Minute einen Bärendienst. Die gesamten 90 Minuten wirkten eher wie Planerfüllung denn Aufstiegskampf.

Aber das ist auch schon längst Geschichte und so brillierte der SPIEGEL-Journalist vor allem mit Beobachtungsgabe bei den Studien seiner Gegenüber. Er attestiert Holger Nussbaum beispielsweise beeindruckende athletische Fähigkeiten: „… stemmt sich schneller aus seinem Bürostuhl, als man es ihm zugetraut hätte.“ Auch von textilem Blendwerk ließ er sich nicht beirren und stellte unmissverständlich klar, dass Nussbaums „dunkelblauer Pullover über die Jeans hochgerutscht war und sein Hemd eine Handbreit freilegte.“ Das liest sich eher wie eine Pressekonferenz in der Meri-Sauna.

Auch Kirschners Erscheinungsbild an jenem denkwürdigen Dezembertag im Rosenkranz hinterließ Wirkung: „ Zum Treffen in einem Restaurant kommt er ohne Jacke, seine Praxis liegt keine 100 Meter entfernt. Auch im Dezember ist Kirschner braungebrannt, zu seinen silbernen Winfried-Kretschmann-Haaren trägt er einen dünnen Pullover ohne T-Shirt und eine weiße Arzthose.“

Das unterscheidet gestandene Bundesjournalisten von kläglichen Lokalsatirikern. Das gesamte Charisma des Arztes in zwei solch überwältigenden Sätzen zusammenzufassen, gelingt Letzteren nur nach einer Überdosis bewusstseinserweiternder Stimulanzien.

Adel verpflichtet

Unter einem Kasten Kellerbier und einer Flasche Grappa geht da gar nix. Beim SPIEGEL schaffen die das sogar nüchtern und können, quasi von Hamburg aus, sogar die anderen Attribute erkennen: „Kirschner, Jahrgang 1955, ist Markranstädter, Arzt, alter CDU-Adel, Jahrzehnte im Stadtrat, derzeit stellvertretender Bürgermeister.“

Bei den Markranstädter Nachtschichten hätte man es nach dem dritten Liter Gerstensaft und einer halben Flasche Grappa vielleicht mal mit „Volker Edler von Döhlen-Quesitz“ versucht und seine Hose als „sonnengebräunt wie eine Kellnerjacke“ bezeichnen wollen, aber an einem so sparsamen Dreh wie den mit dem CDU-Adel hätten wir selbst im Vollsuff tagelang geschraubt.

Na ja, das ist eben der Unterschied zwischen Amateuren und Profis, die dann sogar lasziv umschreiben dürfen, dass der sächsische Arzt den badischen Hydraulik-Migranten an den Managerposten eines kleinen Vorstadtvereins erst „heranführen“ musste.

Sowas dürfte man sich bei den Markranstädter Nachtschichten nicht erlauben. Nein, nein und nochmals nein – wir kommen schließlich nicht aus Hamburg!

Gleich gar nicht würden wir je in die grandiose Situation geraten können, unseren Kretzschmann-Medicus vor Wandbildern mit Prostatakarzinomen oder dreidimensionalen Schnitten durch menschliche Innereien fotografieren zu dürfen.

Die Negation der Negation

Nicht mal dann, wenn es ein Poster für die nächste Stadtratswahl werden soll („CDU – da müssen Sie ganz gesund sein!“) Da kommt so richtig Neid auf. Schade, dass wir nicht in Hamburg sitzen.

Wenngleich Neuigkeiten in diesem Artikel natürlich nicht zu erfahren waren, so hat er doch zu einem humoristisch geprägten Finale der Adventszeit beigetragen. Selten so gelacht. Schade nur, dass die Dritte im Bunde so marginal behandelt wurde.

Sie hatte an diesem Tag nicht nur ihren See im Stich gelassen, sondern sich extra so liebreizend in Schale geworfen und dann wird das in Hamburg quasi mit der Negation der Negation geahndet. Unvorstellbar, was da so grob fahrlässig als journalistische Brache liegen blieb.

Einzig der letzte Satz im Artikel hatte eine gewisse Brisanz, die den Erwartungshorizont der Satire übertraf. Was ein Ordner mit Verträgen eines Vereins im Büro eines privaten Unternehmers zu suchen hat – und sei es auch nur in der untersten Schublade – könnte angesichts der Lacher in den vorangehenden Zeilen fast zur Nebensache geraten.

(Titelbild: Screenshot Spiegel-Online)

 

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