Vorwärts nimmer, rückwärts immer

Neulich am Zeitungsregal in einem Markranstädter Einkaufsmarkt. Nach längerer, ergebnisloser Suche bittet MN-Chef Claus Narr eine Verkäuferin um Hilfe. „Ich hätte gern ein ‘Neues Deutschland‘.“ Darauf blickt sich die Angestellte vorsichtig um und flüstert dann: „Ich auch.“ Das hat in seinem närrischen Hirn einen Denkprozess in Gang gebracht, der für sein Umfeld zunächst sogar hörbar war und jetzt auch nachlesbar ist. (Titelbild: Bundesarchiv Bild 183-T0220-0307, bearbeitet, Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/)

Ehrlich gesagt, bin ich mit dem aktuellen Deutschland so richtig zufrieden. Die Regierung arbeitet zwar nicht erfolgreich, dafür aber konsequent. Nachdem mir die Berliner (H)Ampelmännchen in der vergangenen Woche auch noch das letzte Fünkchen Hoffnung genommen haben, bin ich jetzt ganz ohne Erwartungen und kann deshalb auch nicht enttäuscht werden.

Zum Beispiel vom neuerlichen Dreifach-Wums für den Abbau der Bürokratie. Auf uns selbst gestellt, würden wir Bürger wahrscheinlich auf die Idee kommen, von den allein in Berlin beschlossenen 1.773 Gesetzen mit ihren 50.738 Einzelnormen oder den 2.795 Rechtsverordnungen mit 42.590 Paragrafen einfach ein paar zu streichen. Ländergesetze und Kommunalverordnungen sind in diesen Zahlen übrigens nicht einmal enthalten.

Nummer 1774: Bürokratieabbau mit neuem Gesetz

Doch was macht unsere Regierung? Sie streicht im Bürokratendschungel nicht ein einziges Gesetz, keinen einzigen Paragrafen und auch keine Einzelnorm. Im Gegenteil: Sie packt mit dem Bürokratieentlastungsgesetz einfach noch Gesetz Nummer 1.774 obendrauf. Das ist so genial, da würde wirklich kein normal denkender Mensch drauf kommen.

Ein Neues Deutschland gefällig? Der deutsche Michel ist angesichts der reichen Auswahl noch etwas unsicher, versucht es offenbar eher in der Wahlkabine als am Zeitungskiosk.

Ein Neues Deutschland gefällig? Der deutsche Michel ist angesichts der reichen Auswahl noch etwas unsicher, versucht es offenbar eher in der Wahlkabine als am Zeitungskiosk.

Ich vergleiche das mit einem Kfz-Mechaniker, der in Ermangelung tauglicher Winterreifen einfach ein zusätzliches Paar Sommerreifen über die alten Pneus zieht und seinen Kunden damit ins verschneite Erzgebirge schickt, wo schon die Angehörigen der staatlichen Reifenkontrollbehörde mit Bußgeldvordrucken Aufstellung genommen haben.

Die über die Klinge springen

Oder das Messerverbot – auch so ein Ding. Im Geiste sehe ich schon wackere Recken über die Mittelaltermärkte ziehen, an deren Gürteln statt imitierter Schwerter dann lustige Spuckfische aus Plastik baumeln, weil auch Spritzpistolen als waffenähnliche Gegenstände identifiziert werden könnten.

Spuckfische und Gumminuckel

Und bei den alljährlichen Schlachtfesten in Großgörschen oder Liebertwolkwitz rammen Rekruten an den Lagerfeuern dann die über ihre Bajonettverschlüsse gezogenen Gumminuckel von Hipp in die Leiber der Spanferkel, um die Filetstücke auszulösen.

Hauptsache gewaltfrei

Mit Imitaten aus Pappmaché lässt sich die Kultur des deutschen Michels gegen die Einflüsse der Nichtmichel freilich kaum verteidigen, weshalb die Strategie der Berliner Hampelregierung nur folgerichtig ist: Wir feiern den Untergang als Sieg, weil die Niederlage gewaltfrei zustande kam.

Aber das Einknicken der Politik vor der importierten Streitkultur hat auch weitere Vorteile, die der meckernde homo marcransis erst noch erkennen muss. Was freue ich mich auf das nächste Markranstädter Kinderfest! Genau gesagt auf die Leibesvisitation, die auf der Suche nach mitgebrachten Messern am Eingang zur Festwiese vorgenommen wird.

Gratis-Handjob auf dem Volksfest

Ich werde die Vereinschefin mit einem im Schritt deponierten Zollstock, der trotz Bürokratieentlastungsgesetz nicht ohne Grund noch immer „Gliedermaßstab“ heißt (Richtlinie 2004/22/EG), auf die falsche Fährte locken.

Statt sich darüber zu freuen, dass man auf Volksfesten jetzt so billig zu Sex kommt und für’s legale Befummelnlassen nicht erst teure Flugtickets buchen muss, wird in Markranstädt nur gemeckert.

Messer-Razzia in der Küche

Warum gehen wir nicht so locker damit um wie beispielsweise die Menschen in Hamburg? Im dortigen Hauptbahnhof hat die Polizei hunderte Messer sichergestellt. Bei dem Erfolg kann es sich zwar nur um eine Razzia in der Mitropa-Gaststätte gehandelt haben, aber immerhin.

Zwar müssen die wartenden Bahn-Passagiere ihre Schnitzel seitdem mit den Fangzähnen reißen, aber das eben mit einem unbezahlbaren Sicherheitsgefühl, für das der Polizeichef in der Davidwache vielleicht sogar vom Schlesier zum Oberschlesier befördert wurde.

Es kommt halt darauf an, wo man sucht. In der Hamburger Bahnhofskneipe wird jetzt mit den Fingern gegessen.

Es kommt halt darauf an, wo man sucht. In der Hamburger Bahnhofskneipe wird jetzt mit den Fingern gegessen.

Für mich persönlich gehen die Einschränkungen unserer Freiheit zugunsten der Gastfreundschaft noch nicht einmal weit genug. Spätestens nachdem in der vergangenen Woche ein Markranstädter Radfahrer am hellichten Tage von einem Nichtmichel einfach mal so von seinem Drahtesel geboxt wurde, sollte meiner Meinung nach dringend über eine Faustverbotszone nachgedacht werden.

Andere Michel, andere Sitten

Das Entfernen von Händen steht ja zumindest schon mal im Einklang mit den Rechtsvorschriften in jenen Kreisen, an die wir uns jetzt anpassen müssen. Allerdings wird auch dieses Ansinnen leider an der deutschen Bürokratie scheitern. Wie soll der Scharfrichter (ein Soloselbstständiger, der sich beim Lockdown im Homeoffice als Kammerjäger mit dem Köpfen von Kakerlaken und Bettwanzen fit gehalten hat) einen lückenlosen Nachweis über die Lieferkette seiner Axt erbringen?

Alles unter Kontrolle

Zwar wissen die Behörden dank E-Rechnung künftig über seine Einkaufsgewohnheiten Bescheid, aber ob der Griff seiner Axt aus brasilianischem Regenwald-Holz geschnitzt ist oder mit dem Stahl der Schneide das Wirtschaftembargo gegen Russland umgangen wurde, das muss vor der Auftragserteilung geklärt sein.

Außerdem muss der Scharfrichter eine ordnungsgemäße Aus- und Weiterbildung nachweisen und in einer Innung organisiert sein. Nicht nur, weil die wertschöpfungsfernen Handaufhalter der Kammern mitverdienen müssen.

Mehr Hände für Handaufhalter

Schließlich ist es auch im Interesse der Leidensminderung des Delinquenten wichtig, dass der Vollstrecker sein Werk auch mit nur einem Hieb vollenden kann. Ein Messer, um eventuell nicht ganz durchtrennte Sehnen final zu kappen, darf er schließlich bei einer öffentlichen Veranstaltung nicht mehr mitführen. Da wird der Scharfrichter wohl Insolvenz anmelden müssen.

Genau an dieser Stelle erklärt sich übrigens auch das von der Bundesregierung ausgegebene Ziel des Bürokratieentlastungsgesetzes ganz von selbst. Angeblich soll ja die deutsche Wirtschaft durch dieses Papier um 944 Millionen Euro entlastet werden. Und das stimmt – mindestens!

Plusminus eine Milliarde

Wenn die kleinen Betriebe von der Teilhabe an öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen sind, weil sie sich die nötige 8-Mann-Brigade für das Ausfüllen der Formulare nicht leisten können, das Haltbarkeitsdatum der Tariftreueerklärung um drei Tage überschritten ist oder die Lieferkette der Kugelschreiberminen nicht lückenlos nachweisen können, werden sie früher oder später dicht machen. Müssen.

Dabei wollten die Mitarbeiter dieses Sanitärbetriebes nur einen Wasserhahn im Rathaus wechseln...

Dabei wollten die Mitarbeiter dieses Sanitärbetriebes nur einen Wasserhahn im Rathaus wechseln…

Der fehlende Umsatz, den Robert Habeck als Entlastung auf der Haben-Seite bucht, dürfte so auf Dauer sogar weitaus mehr als nur eine knappe Milliarde Euro ausmachen. Unterm Strich bedeutet das: Deutschland entbürokratisiert sich gerade reich!

Krankenkassen sorgen für Reichtumsentlastung

Damit der deutsche Michel nicht zu wohlhabend wird und das in den europäischen Nachbarstaaten vielleicht noch Neid erzeugt, wird aktuell mit viel Weitsicht gegengesteuert. Durch eine Art Reichtumsentlastungsgesetz werden ab Januar die Beiträge der Krankenkassen hochgeschraubt.

Neid-Debatte vorgebeugt

Damit wird zugleich jenen Pessimisten der Wind aus den Segeln genommen, die da errechnet haben wollen, dass dies wegen leerer Kassen erfolgt, die durch die kostenlose Gesundheitsversorgung nicht einzahlender Nichtmichel entstanden ist. Nein, liebe Meckerer, die Beitragserhöhungen erfolgen nicht wegen Armut, sondern aus Gründen überbordenden Reichtums!

Vorwärts, wir gehen zurück

Wenn ich trotzdem ein Neues Deutschland will, dann nur, damit ich nicht ständig mein mühsam erworbenes Grundwissen in Mathematik, Logik und BWL hinterfragen muss. Das nervt nämlich auf Dauer.

6 Kommentare

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    • Samoht auf 6. Oktober 2024 bei 12:25
    • Antworten

    „Wir feiern den Untergang als Sieg, weil die Niederlage gewaltfrei zustande kam.“ – Aus meiner Sicht der Aphorismus des Jahres!!! Ganz groß!

    1. Da könnse mal sehen, wie schlimm es um unser Land steht, wenn sogar wir schon auf solche Wortschöpfungen kommen.

  1. Faustverbotszone, das wäre gut. Was es doch für Markranser Michel gibt. Nur, weil frischer Semmelduft über die Seebenischer Flur weht, rastet ein Nichtsächsischer Michel völlig aus und teilt Faustk(r)ämpfe aus. Das geht gar nicht. Und für diese Aktion wird aufgrund des Bürokratismus einige Zeit ins Land gehen, nachteilig für den/die Geschädigten.

    1. Andere Michel, andere Sitten: Chruschtschow hatte seinerzeit wenigstens den Schuh genommen.

  2. Die Beamten, die unsere Gesetze entwerfen und formulieren sind hochqualifizierte Fachkräfte und werden weiter ihre Daseinsberechtigung nachweisen und nicht am eigenen Ast sägen. Dabei sind sie sehr kreativ und innovativ – siehe Bürokratiegesetz.

    1. Der eigene Ast nennt sich bei denen: personengebundene Extremität an raumübergreifendem Blattgrün.

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