Das Wohlstands-Taxi auf Abwegen

Markranstädt steuert auf eine Hungerkatastrophe zu! Angesichts zum Bersten gefüllter Supermarktregale scheint dieses Szenario zwar fern, aber das Ungemach droht von ganz anderer Seite: Bald gibt es keine Einkaufswagen mehr. Statt angekettet in ihren Carports zu stehen, prägen sie mehr und mehr das Stadtbild. Drücken wir uns demnächst an den Schaufenstern die Nasen platt und siechen dem nahenden Hungertod entgegen, weil nichts mehr da ist, worin wir unseren Wohlstand an die Kasse chauffieren können?

Sonntagsspaziergang in Lallendorf: Drei Einkaufswagen in der urbanen Prärie der Kernstadt, die alle ihre eigene Geschichte erzählen. Drei Geschichten also, die auch etwas vom Alltag in Markranstädt berichten. Einem Alltag allerdings, der vielen Menschen genauso fern ist wie der Hungertod.

Beginnen wir den Sonntagsspaziergang da, wo man in den meisten Städten die subkonsumen Benutzer von Einkaufswagen antrifft: am Bahnhof. Und wirklich – Bingo! In der Fußgängerunterführung erwartet uns bereits das erste Modell.

REWE-Car mit allen Extras

Ein Multifunktionsgerät für den wahren Überlebenskünstler. Die Bandbreite reicht von der Einsatzmöglichkeit als Transportmittel mit stufenlos verstellbarer Lenk-Einheit über Küche und Ofen bis hin zur Möglichkeit einer zweiten Ansprache im Falle nächtlicher Einsamkeit.

ofen

Wenn zu nächtlicher Stunde mal der Schrei „ICH – HABE – FEUER – GEMACHT!!!“ a la Tom Hanks aus dem Markranstädter Tunnel hallt, zeigt dieses Foto den Grund.

Die Zahl der Obdachlosen lag in Markranstädt nach Auskunft des Ordnungsamtes zuletzt – gemeint ist damit Juli bis September 2015, bei (Zitat) „…monatlich durchschnittlich 2 Obdachlosen, wobei keine Person obdachlos wurde.“ Kleiner Kalauer am Rande, der nicht auf unserem Mist gewachsen ist, sondern den Stadträten im Juni genauso präsentiert und von ihnen wiederum mit der gleichen Selbstverständlichkeit zur Kenntnis genommen wurde.

In diesem Fall würde das sogar stimmen, denn die hier zumindest zeitweise lebende Person hatte mit dem Fußgängertunnel schließlich ein Dach über dem Kopf und war damit nicht obdachlos. Interessant ist auch ein Blick in sowie unter den Wagen. Ein abgebrannter Holzscheit und unter dem Shopping-Car liegende Asche verraten, dass das Mobil als Ofen benutzt worden sein könnte.

Angesichts der gegenwärtigen Klimalage scheidet die Beheizung des Tunnels zwecks Schaffung einer gemütlichen Schlaf-Atmosphäre allerdings aus. Ein Bündel Kraut deutet eher auf die Zubereitung von Essen hin. Die vorgefundenen Indizien lassen die Vermutung zu, dass “Wilde Möhre an Sternburg-Sauce“ zubereitet wurde.

Es könnte sich hinter diesem Konvolut zurückgelassener Zivilisationsspuren allerdings ein wesentlich tragischeres Schicksal verbergen. Ein Blick auf das Kraut und danach ins Lexikon offenbart, dass die Wilde Möhre schon von unseren Ahnen beispielsweise bei der Behandlung von Brandverletzungen Anwendung fand.

Wilde Möhre gegen Brandblasen

Hat sich der Einkaufswagen-User beim Feuermachen vielleicht die Finger verbrannt? Konnte er sich, weilend unter den Schienen der Zivilisation, quasi im Keller der Stadt und fernab jeglicher medizinischer Versorgung, vielleicht gerade noch bis zum Bahndamm schleppen und dort als verzweifelten Akt letzter Rettung Wilde Möhre reißen?

Oder hat ihn gar der Hunger im „Wir schaffen das“-Land gezwungen, die Wurzeln dieses Krautes über dem heimischen Wagenfeuer zu garen, um dem Hungertod zu entkommen? Nun ja, weitere Indizien, wie beispielsweise das Vorhandensein von Leergut im und um den Wagen lassen letztendlich auch die Theorie zu, dass das Drahtgeflecht eines solchen Wagens hervorragend geeignet ist, ein Holzscheit kontrolliert abbrennen zu lassen und über den Flammen einen Löffel heiß zu machen.

Die Arroganz der Bequemlichkeit

Aus des Tunnels Dunkel wieder ans Licht gekommen, wartet gleich in der Ziegelstraße schon der nächste Wagen. Der erzählt jedoch nichts von Not oder Armut. Im Gegenteil: Bis über den Eichstrich hinaus ist er gefüllt mit den Überschüssen unseres Wohlstands.

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Ordnungsgemäß im rechten Winkel zur Hecke und parallel zur Straße geparkt: Künstlerische Installation, die den Überfluss unserer Gesellschaft nachhaltig anprangert, ohne den Kontext zu unserer Umwelt zu vernachlässigen.

Und ja, man kann schon ein gewisses Maß an Bildung sowie Erziehung und geradezu akademische Attribute voraussetzen, wenn man sieht, wie sauber, ordentlich und fachgerecht der Wagen gepackt und im Stadtbild abgestellt wurde. Im rechten Winkel zur Hecke, parallel zur Straße und visuell nahtlos in das Gesamtkonzept der Deutsche-Bahn-Anlagen integriert. Das sieht fast schon nach Logistik „made by amazon“ aus. Ein kleines Kunstwerk ist da entstanden im suburbanen Kernstadtgebiet.

Die Installation ist derweil Bild gewordene Kritik am Überfluss und am Produktionsausstoß unserer Gesellschaft an Dingen, die eben diese Gesellschaft nicht braucht.

Ihr Titel könnte lauten: „Den Unterschied zwischen philosophischer und poetischer Ausdruckskraft im Auge behaltend, wird vor den Toren der längst niedergegangenen Markranstädter Automobilfabrik das Rezitativ genetischer Weiterentwicklung in der alles in Anspruch nehmenden Formsprache modernen Konsumverhaltens so in Szene gesetzt, dass die ökologischen Parameter unserer Umwelt … komplett im Arsch sind.“

Unterhalb der Brücke Siemensstraße, die über die Bahnstrecke führt, wartet ein weiterer Einkaufswagen. Der hat, ebenso wie das gesamte Umfeld da unten, seine besten Zeiten längst erlebt. Ein Schrotthaufen, der sich allerdings, wie seine beiden Vorgänger, fast unter einem Tarnumhang verborgen nahezu unbemerkt in das Gesamtensemble seiner Umgebung einfügt.

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Parallelwelt unter der Siemensstraße. Hier wird die Gesellschaft dematerialisiert.

Das ist die Zone, in der die Errungenschaften unserer Zivilisation Schritt für Schritt ihrer Dematerialisierung zugeführt werden. Ein gesellschaftlicher Kernreaktor sozusagen, in dem jeder einst geschaffene Wert – und sei er noch so wertlos – trotz kompletten Fehlens chemisch-physikalischen Halbwissens in seine atomaren Bestandteile zerlegt wird. Allein die Verletzungsgefahr angesichts der Glasscherben und Metallsplitter schreit nach der Verwendung eines Schutzanzuges beim Passieren des Areals.

Die damit einhergehenden Gefahren für Leib und Leben waren dann doch zu groß und führten zu einem abrupten Abschluss des Spaziergangs. Aber was heißt hier eigentlich groß? Von Schaden kann nicht die Rede sein, ebenso wenig von Beschädigung. Im Grunde genommen lässt sich das, was wir gefunden haben, sogar betriebswirtschaftlich beziffern. Es waren genau drei Euro. Der Pfand, den man bekommen hätte, wenn die Einkaufswagen wieder an den für sie bestimmten Ort zurückgebracht worden wären.

Drei Euro – da kann man doch wirklich nicht von Überfluss sprechen und gleich gar nicht von Armut.

 

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