Fünf Dutzend für den „heimlichen Zemmi“

Manche Markranstädter hätten ihn gern als Bürgermeister, für andere ist er längst mehr als das heimliche Stadtoberhaupt. Mal wird er als „graue Eminenz“ bezeichnet, immer als Integrationsfigur, häufig als Ratgeber. Auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht, ist er in Markranstädt eine der gesellschaftlich wichtigsten Personen unserer Tage. Obwohl er Nichtraucher ist, absolut fit und einmal in der Woche um den Kulki läuft (sein Vorgänger wäre einfach quer drüber gegangen), steht er heute vor einer ganz schweren Aufgabe: Pfarrer Michael Zemmrich muss auf der Geburtstagstorte 60 Kerzen ausblasen! Bevor sein Organismus in den anaeroben Bereich kollabiert, hat MN-Chef Claus Narr jun. den Markranstädter Cheftheologen noch mal schnell interviewt.

Fühlt sich seltsam an, Ihnen zum 60. zu gratulieren. Viele hätten Ihnen eine 50, manche sogar Mitte 40 abgenommen. Dass Sie unter dem Altar den Heiligen Gral gefunden haben, schließe ich mal aus. Was hält Sie so jung?

Gute Frage … das würden Sie gern zur Selbstanwendung wissen wollen … da kann ich nur sagen: Neben Gott und der genetisch vererbten Gesundheit – die Zellwände werden eben doch unterschiedlich schnell durchlässig – meine junge Frau natürlich… Aber bei den grauen Haaren – wenig genug – merkt man‘s doch schon deutlich.

Ein Drittel Ihres Lebens haben Sie in Markranstädt verbracht. Auf welchem der drei Plätze würden Sie diesen Lebensabschnitt einordnen?

Ich würde diesem Lebensabschnitt den dritten Platz einräumen und damit keine Platzierung meinen. Die Lebensjahre laufen ja der Reihe nach ab und ich würde sagen: Alles was in den ersten 40 Jahren gereift ist, das konnte hier in Markranstädt zu weiterem Wachstum und teilweise auch zur Ernte kommen. Aber mal abgesehen davon fühle ich mich als Markranstädter – falls man das nach 20 Jahren schon darf…

Es gibt Städte, in denen wissen die Leute nicht mal, dass sie überhaupt einen Pfarrer haben, ganz zu schweigen von dessen Namen. In Markranstädt hingegen sprechen selbst die überzeugtesten Atheisten mit Respekt von Ihnen und suchen oft sogar Ihren Rat. Gibt’s da Ärger mit der Dresdener Betriebsleitung Ihres Glaubenskombinates, wenn Sie Ihre Kraft auch für die aufwenden, deren Seelen über die Kirche gar nicht versichert sind?

Nein, natürlich nicht. Die Betriebsleitung des Glaubenskombinates in Dresden weiß sehr wohl die Gemeinwesenarbeit wertzuschätzen. Jesus pflegte ja auch nicht nur seine Jünger. Und das Neue Testament lässt keinen Zweifel daran, dass die dort propagierte Zuwendung allen gilt. Natürlich weiß ich, dass ich nicht Jesu bin… aber doch im Nachfolge-Dienst.

Nochmal kurz zum Thema Respekt: Unter sich sprechen die Markranstädter oft von „Zemmi“, aber wenn Sie dabei sind, nehmen sie plötzlich Haltung an und Sie sind Herr Zemmrich. Trotzdem haben Sie unwahrscheinlich viele Freunde. Wie können bei so viel respektvoller Distanz Freundschaften entstehen?

Danach sollten Sie meine Freunde fragen… Keine Ahnung, wie das geht.

Als Sie 2016 das Martinslädchen eröffneten, haben Sie gesagt, dass nicht nur Flüchtlinge unsere Aufmerksamkeit verdienen, sondern es auch unter den Markranstädtern Bedürftige gibt, die man nicht vergessen darf. Daraufhin haben einige Leipziger Kleriker versucht, Sie auf die rechte Standspur abzudrängeln. Was macht das mit einem Menschen, der stets das Gute will?

Ich habe mich nach den entsprechenden Verletzungen entschlossen, das nicht ernst zu nehmen, weil ich wusste, dass es nicht wahr ist.

Eckte mit dem Martinslädchen an, kann aber auf breite Unterstützung zählen: Michael Zemmrich mit Gattin Claudia und Marianne Schwung, der guten Seele des Lädchens.

Eckte mit dem Martinslädchen an, kann aber auf breite Unterstützung zählen: Michael Zemmrich mit Gattin Claudia und Marianne Schwung, der guten Seele des Lädchens.

Sie haben 2013 etwas geschafft, woran sich alle anderen gesellschaftlichen Kräfte die Zähne ausgebissen haben: Erfolgreiche Friedensverhandlungen nach der legendären Bürgermeisterwahl. Was haben Sie mit den Streithähnen anders gemacht als die gescheiterten Schlichter?

Ich habe unvoreingenommen zugehört. Jedem. Und Jeder. Und dann aufgefordert, das vor den anderen zu sagen, was sich hintenherum leicht sagt – aber von Angesicht zu Angesicht eben doch schwerer. Da relativiert sich manches… Und das ist ein Anfang.

 

Was macht eigentlich ein Pfarrer, wenn er mal einen Pfarrer braucht?

Dann geht er zu einem anderen Pfarrer, oder zu seinem Chef, dem Superintendenten.

Frau Uhlmann-Zemmrich, mal angenommen, Ihr Mann hätte die andere Konfession erwischt und wäre Katholik geworden … also rein am Familienleben hätte das ja nichts geändert, nur dass Sie jetzt nicht Ehefrau, sondern Haushälterin wären. Hätten Sie ihn trotzdem genommen?

Zu 100 Prozent! Aber er hätte für mich freiwillig die Konfession gewechselt, damit die Kinder in der Öffentlichkeit ihren Vater mit „Papa“ ansprechen können.

Noch eine Frage an die Gattin: In der Ausbildung gibt es unter jungen Vikaren so eine Weisheit für das spätere Leben als Pfarrer. Darin heißt es: Nimm die Gemeinde nicht mit ins Bett! Wie ist es, hält er sich dran?

Meistens. Und wenn nicht, muss die Gemeinde nach kurzer Zeit das Bett wieder verlassen.

Gipfeltreffen dreier Konfessionen im Jahre 2014: Michael Zemmrich mit Jens Spiske vom weltlichen Klerus und Hans-Ulrich Felke, dem damaligen Filialleiter der katholischen Glaubensholding (v.l.)

Gipfeltreffen dreier Konfessionen im Jahre 2014: Michael Zemmrich mit Jens Spiske vom weltlichen Klerus und Hans-Ulrich Felke, dem damaligen Filialleiter der katholischen Glaubensholding (v.l.).

Gute Überleitung. Herr Zemmrich, wie wichtig ist Ihnen Ihre Frau im Beruf? Dass sie Ihnen den Rücken freihält, ist bekannt. Aber sie kniet sich ja auch sonst richtig rein. Martinslädchen, Kinder- und Jugendarbeit, ihre Adventsspirale ist ja schon legendär. Wäre Ihre berufliche Leistung ohne sie denkbar?

Nein, keinesfalls. Ich könnte ohne meine Frau nicht so Pfarrer sein, wie ich es, wie wir es wollen. Deshalb spricht man ja auch von einer Pfarrfrau. Und das ist sie im besten Sinn des Wortes. Dass sie mir nicht nur den Rücken freihält und mir abnimmt, was ich sonst ohne Zweifel alles tun müsste, sondern selbst noch für die Gemeinde und unsere Stadt so engagiert arbeitet, das ist für mich ein großes Glück, eine Gnade.

Nein, als Woodstock stattfand, war Michael Zemmrich erst acht Jahre alt. Aber für seine Gemeinde schlüpft der Pfarrer auch gern mal in die Rolle des Heiligen Johannes.

Nein, als Woodstock stattfand, war Michael Zemmrich erst acht Jahre alt. Aber für seine Gemeinde schlüpft der Pfarrer auch gern mal in die Rolle des Heiligen Johannes.

In Ihren Predigten und Andachten sprechen Sie genau das an, was viele Menschen im öffentlichen Diskurs vermissen. Gerade wenn Sie auf die Römer zu sprechen kommen, sollte man die Ohren spitzen. Damit geht es Ihnen aber so wie uns Satirikern: Die einen verstehen es nicht, die anderen vergessen es danach sofort wieder. Unterm Strich bleibt der Eindruck, dass man in den Köpfen nichts erreicht hat. Frustriert sie das auch so?

Es gibt da in der Bibel ein wunderbares, ermutigendes Gleichnis vom Sämann: Hauptsache er sät nach bestem Wissen und Gewissen. Auf das Wachsen muss er und kann er vertrauen. Daran versuche ich mich zu halten. Gelegentlichen Ärger über das Nichthören inbegriffen. Ist menschlich.

Ihre sonntäglichen Workshops, in der Fachsprache heißen die wohl Gottesdienste, sind vor allem wegen Ihrer geschliffen scharfen Gesellschaftskritik auch bei Atheisten und Satirikern sehr beliebt. Ich frage das jetzt aus gutem Grund, weil ich schon manchmal selbst kurz davor war, es zu tun: Darf man im Gottesdienst eigentlich auch klatschen?

Ja, das darf man – warum nicht? Das wäre ein guter Dialog. Dann müsste ich im Zweifel auch die Buh-Rufe aushalten…

 

Sie gelten als begnadeter Mediator und haben das auch schon oft unter Beweis gestellt. Was denkt ein Mann des geschliffenen Wortes über die aktuelle Streitkultur in unserem Land?

Damit ist es nicht weit her – leider. Und das besorgt mich sehr. Wenn sich mehr und mehr Menschen nur in internen Denksystemen befinden und gar nicht mehr streiten wollen, sondern nur noch Rechthaben, dann ist das ein furchtbarer Verlust für die Gemeinschaft. Ich weiß in der Tat nicht, wie wir da wieder herauskommen, weil ja auch die Sprache schwächelt. Ich denke aber – siehe oben – wir müssten das Zuhören üben, zu jeder sich bietenden Gelegenheit und mitunter neu erlernen.

Ist schon seit 60 Jahren auf der Welt und seit 20 Jahren Markranstädter: Pfarrer Michael Zemmrich.

Ist schon seit 60 Jahren auf der Welt und seit 20 Jahren Markranstädter: Pfarrer Michael Zemmrich.

Eine ganz andere Frage in diesem Zusammenhang ist es, dass das Verbindende im Rausch der Vielfalt immer weniger gesehen und wahrgenommen wird – aus Mangel an Gelegenheit oder eben grundsätzlich. Kurz: freiwillig gemeinsam und gemeinschaftlich zu denken, zu sprechen und zu singen ist eine Kunst.

Ist das irgendwie noch heilbar oder müssen wir uns daran gewöhnen, dass es zwischen Schwarz und Weiß keine Graustufen mehr gibt? Oder anders gefragt: Sollten wir dagegen aufbegehren oder in christlicher Demut lieber lernen, irgendwie damit umzugehen? Was sagen 60 Jahre Lebenserfahrung dazu?

Im Augenblick scheint Grau auszusterben. Aber damit sollten sich all jene nicht abfinden, die das schmerzt. Demut ist da nicht am Platz. Wenn die, die für’s „Grau“ streiten, es selbst tapfer praktizieren, ist das schon ein Anfang. Das ist nicht leicht, denn schnell färbt schwarz oder weiß ab. Dennoch…

An welche Höhepunkte, im positiven wie im negativen Sinne, erinnern Sie sich im Rückblick auf Ihre bisherigen 20 Jahre in Markranstädt zuerst?

An dieser Erinnerungsleistung arbeite ich dann im Ruhestand…

Was würden Sie in und für Markranstädt gern noch erreichen?

Noch? Ich würde mich freuen, wenn wir aus der augenblicklichen Lage wieder herausfinden. Leider kann ich dazu nur sehr bescheiden beitragen. Wenn wir wieder alle Feste miteinander feiern können, mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu Freizeiten fahren, dann wäre ich vollkommen zufrieden… Hier mitten auf dem Markt – wie zum St. Laurentiusfest – gemeinsam mit Vereinen und allen, die kommen möchten, um beieinander zu sein, das wäre jetzt mein Traum.

Rein rechnerisch haben Sie jetzt noch 7 Jahre bis zur Rente. Was folgt danach? Wollen Sie in Markranstädt bleiben?

Auf jeden Fall – keinesfalls weg.

Fein, also dann feiern wir auch noch die kommenden mindestens 40 Geburtstage hier. In diesem Sinne alles erdenklich Gute, Gesundheit, Freude und Kraft. Und seien Sie demütig, wenn es Ihnen nicht gelingen sollte, alle 60 Kerzen mit einem Atemzug auszublasen. Wichtig ist, dass die Torte schmeckt.


Michael Zemmrich wurde am 30. November 1961 im erzgebirgischen Breitenbrunn geboren. Die theologischen Gene wurden ihm bereits in die Wiege gelegt. Sein Vater war Pfarrer, die Mutter Kantorin, die Schwester arbeitet als Seelsorgerin in Dresden und sein Bruder,  ebenfalls studierter Theologe, arbeitet für ein Missionswerk in Asien. Michael Zemmrich ist gelernter Maurer und wollte eigentlich Architekt werden. Im Jahr 2001 wurde er Pfarrer in Marklranstädt und lernte hier seine spätere Ehefrau Claudia kennen, mit der er seit 2004 glücklich verheiratet ist.

 

3 Kommentare

    • Bewunderer auf 2. Dezember 2021 bei 22:04
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    Zemmi ist schon eine wichtige Konstante in der Stadt. Ein Glück, dass er den Angeboten für das Amt des Bürgermeisters immer widerstehen konnte. Bezüglich unseres Stadtoberhauptes sind wir in unserem Städtchen ja nicht gerade mit Stabilität gesegnet. Da setzt der Markranster gern auf Veränderung und glaubt, schlimmer geht’s nimmer. So sind wir ganz glücklich, dass wir unseren eigenen Luther haben, der uns hoffentlich noch sehr viele Jahre erhalten bleibt und in seiner Amtszeit auch bei der nächsten Bürgermeisterwahl der Fels in der Branndung ist.
    Dankte an Euch Nachtschichtler, Ihr habts einfach ‚raus: menschlich, witzig, einfach stark!

    1. Danke für das Lob, aber: Bei so einem Interviewpartner kann man nicht viel falsch machen. Da ist einer wie Uli Hoeneß schwieriger.

    • Tilo Lehmann auf 30. November 2021 bei 19:08
    • Antworten

    Glückwunsch dem Träger des 5. Dutzend und Danke für seine so wohltuende gute Art und intelligente Stärke wie ein Baum! … ach- wenn nur Markranstädt’s BM eine ebenso beständige gute Art und Stärke zeigten. Doch all diese BM verwehen regel- und turnusmäßig wie die Blätter vom Baum… Was bleibt? Des Pfarrer Zemmrich’s Saat. Und das ist gut so!

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