Die Verschwörung des Fortschritts

Von der Damenwelt hört man oft, dass es für eine Frau nicht möglich ist, sich eine Strumpfhose würdevoll anzuziehen. Deshalb machen sie das gern im stillen Kämmerlein, damit niemand die Verrenkungen, das Gezerre und Gezupfe sehen kann. Aber auch Männer haben ihre Geheimnisse, wenn’s um Würde geht. Beim Öffnen von Fischbüchsen beispielsweise.

Wenn ich früher als Student im Internat mit dem Frühstück dran war, dann war die Sache noch kontrollierbar. Ich brauchte nur einen Dosenöffner, eine Büchse Scomber-Mix und eine Tüte Semmeln. Fertig war der Lack und die Meute war ruck-zuck abgefüttert!

Sogar optisch präsentierte sich das Breakfast weit von dem entfernt, was seine wörtliche Übersetzung vermuten ließe. Die flach gedrückten Konsumbrötchen passten sich harmonisch in das Gesamtgefüge des Menüs ein. Gehäckselte Fischreste an gebackener Teigflunder. Maritimer kann man einen Start in den Tag nicht zelebrieren.

Scomber Mix gibt’s auch heute noch. Zumindest dem Namen nach. Die neue Sorte trägt allerdings den Untertitel BBQ. Keine Ahnung, was das bedeuten soll. Mit BBW wüsste ich ja noch was anzufangen. Das ist die medizinische Fachbezeichnung für eine beträchtliche Erweiterung der Herzkranzgefäße bei Frauen. Hab ich zumindest mal irgendwo gelesen.

Kann also durchaus sein, dass da bei RügenFisch jetzt vorwiegend die Milchdrüsen strammer Sprotten in den Scomber gemixt werden. Aber auch die Technologie, wie man diese Fischreste zerkleinert, scheint sich geändert zu haben. Sie ist ökologisch geworden, wenn man dem Etikett glauben darf. Da steht wörtlich „zerkleinert mit Kidneybohnen“.

So weit sind wir also schon. Während der Rest Deutschlands noch im Feinstaub vorsintflutlicher Dieselmotoren erstickt, haben uns die Fischköppe längst überholt und schreddern Fischgräten mit Cuttermessern aus Bohnen. Der Fortschritt ist unaufhaltsam.

Sentiment- und Spezialitäten

Da stehe ich nun in der Küche, den Kopf voller sentimentaler Erinnerungen an die früheren Orgien im Internat und richte meinen verträumten Blick auf die Fischdose. Nicht nur Inhalt und Aufmachung haben sich im Laufe der letzten 35 Jahre geändert, sondern auch der Mechanismus zum Öffnen. Und genau an dieser Stelle kommt die Sache mit der Würde ins Spiel.

Im Internat reichte ein Dosenöffner, um an den Inhalt der Büchse zu gelangen. Dann kam der Fortschritt und mit ihm ein völlig neues Verfahren. Mit einer Art Kurbel, die ohne Aufpreis als Sonderausstattung mitgeliefert wurde, ließ sich der Deckel quasi aufdrehen. Man brauchte nur eine Lesebrille, um den Nippel durch die Lasche zu fädeln.

Aber auch das ist längst Geschichte. Der Fortschritt ist weiter geeilt und macht das Leben immer einfacher. Daran jedenfalls glaube ich noch jetzt, gerade in dem Augenblick, als ich die Mechanik auf dem Dosendeckel meines Scomber Mix BBQ studiere.

Bierdose und Handgranate

Endlich haben diese einfallslosen Pinsel von Industriedesignern auch mal an uns Männer gedacht, geht es es mir durch den Kopf. Der Mechanismus sieht aus wie der auf einer Bierdose und erinnert an den Abzugsring einer Handgranate. Beides ist eine Domäne der maskulinen Teilnehmer unserer Gesellschaft. Wieso habe ich Fischbüchsen bis jetzt eigentlich immer von meiner Frau öffnen lassen?

Der erste Grund wird mir vor Augen geführt, als ich plötzlich mit dem Abzugsring in der einen und der noch immer fest verschlossenen Dose in der anderen Hand staunend in der Küche stehe.

Ganz klar: Diese Mechanik wurde speziell für Weicheier ohne Muskeln entwickelt. Es gab nicht mal ein Geräusch, mit dem sich der Ring vom Deckel verabschiedet hat. Lautlose Trennung sozusagen. Wovon manche Männer sonst nur träumen, geschieht wieder mal genau dann, wenn man’s nicht braucht.

Wie schön wäre es jetzt, wenn wir den Dosenöffner damals nicht weggeworfen hätten. In der Annahme, dass man solch steinzeitliche Relikte im 21. Jahrhundert nicht mehr benötigt, haben wir das prähistorische Teil verantwortungsvoll der Kreislaufwirtschaft zugeführt. Im Idealfall ist das Ding dann recycelt worden und ich halte das Ergebnis gerade als Ring in der Hand.

Im Feldlager bei der DDR-Wehrmacht hatten wir solche Dosen früher auch schon mal mit dem Messer geöffnet. Auf diese Sauerei will ich aber verzichten. Da fällt mein Blick auf eine zweite Dose Scomber Mix. Meine Frau, die Grundgütige! Sie denkt sogar beim Einkauf daran, dass ich auf einem Bein schlecht stehen kann und dass diese Eigenschaft nicht nur beim Bier zutrifft.

Also ergreife ich die mir gebotene zweite Chance. Vorsichtshalber verlagere ich den Tatort direkt über die Spüle. Auch das ist ein Erfahrungswert. Noch allzu frisch sind die Erinnerungen an das Desaster, als ich mal einen Tetra-Pack Milch aufreißen wollte.

Das mit dem Aufreißen ist mir ja nach einer Weile und mit entsprechendem Kraftaufwand gelungen, da kann man nichts sagen. Aber erstens geschah dies nicht wie vorgeschrieben „entlang der Lasche“ und zweitens hatte ich die gleiche Kraft auch in der Hand entwickelt, die den Pappkarton festhielt. Druck erzeugt Gegendruck und der entlädt sich dann, sobald sich die Chance dazu bietet.

Der Milch-Strahl stieg bis zur Küchenlampe empor, deren Glühbirne dann nach einem lauten Klirren als glitzernder Regen im gesamten Raum hernieder ging. Ich bin alles andere als ein Verschwörungstheoretiker, aber es kann nicht anders sein, als dass die deutschen Milchbauern ein Kartell mit den Herstellern von Glühbirnen gebildet haben. Drecksäcke, die!

Damit mir das nicht noch einmal passiert, öffne ich die Fischbüchse jedenfalls lieber direkt über der Spüle. Darüber befindet sich der Hängeschrank und so ist wenigstens der obere Luftraum in der Küche gesichert.

Vorsichtig hebe ich den Ring an bis es knackt. Super, das wäre schon mal geschafft! Jetzt ziehe ich vorschriftsmäßig den Deckel auf. Klappt auch, allerdings nicht komplett. Der letzte Millimeter, der den Deckel mit der Dose verbindet, stellt mich vor ein physikalisches Rätsel.

Klar könnte ich den einfach so dran lassen. Aber dann gakelt der von innen mit Scomber Mix-Soße besudelte Deckel sinnlos in der Luft rum und das Zeug tropft überall hin. Außerdem kommt man da mit Gabel oder Löffel schlecht in die hinteren Bereiche der Büchse. Kann ja nicht sein, dass deutsche Ingenieure so elementare Dinge einfach ignorieren. Es muss also eine Lösung geben.

Durch vorsichtige Hin- und Herbewegungen versuche ich, das Material zu ermüden und so eine Sollbruchstelle zu schaffen. Nach gefühlten zehn Minuten wird mir aber klar, dass dieser Vorgang erst nach deutlicher Überschreitung des Haltbarkeitsdatums von Erfolg gekrönt sein wird.

 

Also versuche ich, den vertikalen Bewegungen eine gewisse Zuglast hinzuzufügen. Erst leicht, dann immer stärker und schließlich …

Zingggg …

Der Deckel ist ab! Leider kann ich das nicht gleich sehen, weil ich Soße in den Augen habe. BBQ ist übrigens die Abkürzung für Barbecue. Das wird mir klar, als Feuerstrahlen zwischen meinen Wimpern hervor schießen wollen.

Ich bin blind! Verzweifelt versuche ich, den Wasserhahn zu ertasten. Da ich an der Spüle stehe, kann der ja nicht weit sein. Ein stechender Schmerz sagt mir, dass ich die Suche an der falschen Stelle beginne. Ganz kurz nur und ganz schmal öffne ich das rechte Auge, um wenigstens schattenhaft zu erkennen, was geschehen ist. Okay, soeben habe ich mir am Deckel der verfluchten Fischdose die Hand aufgeschnitten.

Aber im Bruchteil einer Sekunde orte ich auch den Wasserhahn und drehe das Ding fieberhaft auf. Es rauscht. Herrlich! Mit den Händen eine imaginäre Schale bildend, will ich das Wasser auffangen, um es mir ins Gesicht zu werfen. Der Versuch endet mit einem Schrei.

Ich hatte das falsche Ventil erwischt. Zum ersten Mal frage ich mich, warum man etwas als Warmwasser bezeichnet, was sich bereits kurz vor dem Übergang in den gasförmigen Zustand befindet. Verbale Beleidigungen erfüllen die Küche. Das gesamte deutsche Ingenieurswesen wird faktisch mit branchenübergreifenden Flüchen belegt.

Zumindest finde ich in der Nähe des Dampfventils auch den Hahn fürs kalte Wasser und kann so mein Antlitz notdürftig reinigen. Als ich endlich wieder schmerzfrei gucken kann, wird mir das Ausmaß des Desasters gewahr. Das ist nicht mehr meine Küche, die ich da zu sehen bekomme.

Überall grinsen mich kleine rote Punkte an. Am Epizentrum noch etwas dichter angeordnet, ziehen sich die Flecke dann in immer größeren Abständen von der Spüle über den Kühlschrank, sogar die Küchentür und Wände bis hin zur Decke.

Vielleicht war ich bisher ein Verschwörungstheoretiker, nur weil ich davon überzeugt war, dass die Milchbauern gemeinsame Sache mit den Herstellern von Glühlampen machen. Aber jetzt kann ich beweisen, dass die Fischer auf Rügen Kartellabsprachen mit der Wandfarben-Industrie getroffen haben!

Das waren bestenfalls drei Milliliter BBQ-Soße, die da am Deckel der Fischbüchse hingen und mit einem kleinen Zinggg in die Küche geschleudert wurden. Drei Milliliter! Und dafür muss ich jetzt mindestens 10 Liter Wandfarbe kaufen und den Pinsel schwingen. Mein ganz persönlicher Beitrag zum unaufhaltsamen Fortschritt.

120 Gramm Scomber-Mix – 1,19 Euro

1 Tag Malerurlaub in der Küche – unbezahlbar

 

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