Es bleibet dabei, das Gedenken ist frei

Aus Anlass der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor 75 Jahren galt der gestrige Montag bundesweit als gesetzlich verankerter Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus. Ein Blick in die Nachrichten des Tages offenbarte leider schnell, wie unterschiedlich der Begriff „Gedenken“ deutschlandweit interpretiert wird. Sogar Raufhändel gab es. Zum Glück nicht überall. In Markranstädt beispielsweise war zu erleben, dass Gedenken was mit Denken zu tun hat.

Ja, es gab sie. Es gab in den letzten Jahren Entwicklungen, die befürchten ließen, dass die Gedenkveranstaltung auf dem Markranstädter Friedhof zu einem Betroffenheits-Wettbewerb unter den Teilnehmenden ausartet.

Wer darf da sprechen, wer kommt mit der größten Delegation? Selbst die Kränze und ihre Schleifen wurden schon argwöhnisch beurteilt. Am Ende mussten sich Institutionen der öffentlichen Hand sogar schon dafür rechtfertigen, dass nicht jeder Einzelne der Gedenkenden beim redaktionellen Rückblick gleichermaßen gewürdigt wurde. Ein peinliches Trauerspiel.

Da muss man nicht unbedingt Satiriker sein, um die nächste Stufe der Eskalationsspirale zu ahnen. Vielleicht diesmal ein stiller, unausgesprochener Wettbewerb, wer auf dem Pressefoto den betroffensten Gesichtsausdruck mimt?

Aber die Spirale blieb gestern nicht nur stehen, sondern wurde quasi auf null zurückgesetzt. Es waren zeitgemäße und wirklich zum Nachdenken anregende Inspirationen, die da vom Bürgermeister und vom Pfarrer an die Anwesenden gerichtet wurden. Ein wirkliches Gedenken!

Jens Spiske traf gleich eingangs den Nagel auf den Kopf, als er feststellte, dass die harten Fakten der Nazi-Diktatur inzwischen allen bekannt seien. Was aber ziehen wir an Konsequenzen daraus für unsere heutige Zeit und den Alltag? Jeder sollte für sich hinterfragen, wie es um seine persönliche Toleranz gegenüber anderen Meinungen stehe.

Die Entwicklung der Streitkultur, insbesondere in den sozialen Medien, lasse daran zweifeln, dass aus der Vergangenheit immer die richtigen Lehren gezogen wurden. Auch die Bequemlichkeit sei kein guter Ratgeber. Sich in der Sicherheit zurückzulehnen, dass Verhältnisse wie in der Nazizeit nicht wiederkommen könnten, sei fatal. Spiske plädierte eindrucksvoll dafür, nicht nur an einem Gedenktag zu gedenken.

Ohne sich vorher darüber abgesprochen zu haben, hatte Jens Spiske damit Pfarrer Michael Zemmrich eine Steilvorlage geboten. (Spiske sprach übrigens frei, ohne Manuskript.)

Auch Pfarrer Zemmrich verzichtete auf Wiederholungen aus dem Fach Geschichte und hielt statt dessen deren Lehren als aktuelle Mahnung für die gegenwärtige Entwicklung vor aller Augen.

Am Beispiel des Rassismus machte Zemmrich deutlich, wo auch heute vielfach ein Kernproblem liegt. Nicht die Existenz von Rassen sei der Ursprung von Rassismus, sondern die Versuche, Rassen nach Kriterien einzuteilen.

Von weiß oder farbig über fortschrittlich oder nicht sei es nur ein kurzer Weg bis zur Unterscheidung nach gut oder böse. Und dann folgt die Frage, wie Gut mit Böse umgeht … und umgekehrt.

Zum Glück nur ein Gedenken auf dem Lande. Wenn woanders Kameras und Mikrofone lauern, werden anschließend sogar die pneumatischen Atemauslassungen der Redner interpretiert, um Schlagzeilen zu generieren.

Im Kleinen lasse sich das bereits im Alltag beim Umgang mit Meinungen beobachten. Da werde schnell geurteilt, ob es eine gute oder schlechte Meinung ist und entsprechend werde dann mit dem Gegenüber umgegangen. Unverständnis und Hass statt zu versuchen, zuzuhören, zu verstehen und sich auseinanderzusetzen.

Pfarrer bemühen bekanntlich gern biblische Gleichnisse, um bestimmte Botschaften verständlich zu machen. Diesmal konnte Michael Zemmrich auf einen Ausflug in die Bibel verzichten, durfte er doch das beste Gleichnis quasi vor der Kirchentür aus dem wahren Leben schöpfen. Er berief sich auf die Vita eines Mannes, der für das, was er vor 30 Jahren einmal geschrieben und sich in der Zwischenzeit davon distanziert hat, heute seinen Job verlor. Dafür gab es von Sorge getragenes, zustimmendes Raunen aus den Reihen der Anwesenden.

Zwischen zwei Meinungen ist oft genug kein Platz mehr und viele Menschen verschlucken schon aus Angst vor den Lärmenden ihre Zungen – das ist die Erkenntnis, die man gestern mitnehmen konnte und mit der man sich zu Hause weiter beschäftigen kann. Jeden Tag. Da schließt sich auch der Kreis zur Ansprache des Bürgermeisters: Jeder Tag sollte ein Gedenktag sein.

Allerdings ist das Gedenken in eher ländlich geprägten Gegenden ohnehin etwas einfacher als in großen Städten. Da, wo Fernsehkameras aufgebaut sind und Mikrofone auf jede auch nur ansatzweise anders interpretierbare Atemauslassungen des Redners lauern. Oder wie in Berlin, wo es auf einem Friedhof zu tumultartigen Auseinandersetzungen über die Frage kam, wer am Gedenktag gedenken darf und wer nicht. Gut oder böse? Schwarz oder weiß?

Zum Glück blieb uns das erspart. In Markranstädt gilt: Es bleibet dabei, das Gedenken ist frei.

 

3 Kommentare

    • Georg H. auf 30. Januar 2020 bei 12:48
    • Antworten

    … eine weitere Leistung im Artikel ist die Art und Weise der Verwendung der deutschen Sprache. Da wird zum Beispiel das Wort „Raufhändel“ reinkarniert sowie an anderer Stelle tatsächlich von „harten Fakten“ statt in modernem Stile von „Hardfäkts“ geschrieben.

    Meine Meinung zum Thema:
    Gedenken braucht keine Mikrofone, Lautsprecher, Kameras, auch keine vorher geschriebene Reden mit tausenderlei Weisheiten.
    Ich glaube, googelte man „Zitate zur Gedenkpolitik und Erinnerungskultur“, da müsste dann komprimiert zu finden sein, was so alles rausgeblasen wird an heisser Luft.

    • Nachbar auf 28. Januar 2020 bei 9:07
    • Antworten

    Trefflich, Danke.
    Die Fakten sind halt „Ansichtssache“, der vom Betrachtungswinkel ausgeht.

    • Gedenkender auf 28. Januar 2020 bei 7:30
    • Antworten

    Mehr ist da wohl nicht drin, wenn man das Gedenken an Opfer durch die satirische Brille sehen will. Bis vor wenigen Minuten hätte ich sowas für gänzlich nicht machbar gehalten. Nun eines Besseren belehrt, verneige ich mich sogar dafür. Kompliment für die gelungene Wanderung auf einem schmalen Grat.
    Trotzdem wäre es sicher nicht verkehrt, die Gesamtheit aller Umstände mal wieder vor den geschichtlichen Hintergründen zu betrachten. Wenn der Bürgermeister der Meinung ist, dass die harten Fakten bekannt sind, dann liegt das wohl auch daran, dass er im Hinterkopf keine Augen hat. Hätte er sich mal umgedreht, wäre ihm sicher aufgefallen, dass auf der Befreierseite des Gedenksteins jene, die für unser Leben starben, unter einem Sowjetstern in Stein gemeißelt sind. Da stimmt irgendwas mit der historischen Überlieferung nicht. Zumindest ist sie nicht ganz vollständig, es sei denn, die Rote Armee ist damals in amerikanischen Uniformen in Markranstädt einmarschiert.

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