Markranstädter Banalismus: Ist das Kunst oder kann das weg?

Die Kultur liegt am Boden. Jede Menge ausgefallene Events, keine Veranstaltung mehr ohne Maske und wehe, es wird kein Sicherheitsabstand eingehalten. Diese Veränderung verlangt neue Formate, mit denen man den Menschen dennoch Zugang zu Kunst und Kultur bieten kann. Wir haben eins gefunden und möchten es Ihnen nicht vorenthalten. „Markranstädter Banalismus“ haben wir die Stilrichtung genannt, mit der wir eine neue Kunstepoche einläuten. Kunst, die schon da ist, aber noch entdeckt werden muss. Hier mal drei Beispiele:

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Depressionistischer Masochismus

Der Neubau der Kreuzung B 181 und B 186 kurz vor Dölzig sollte eigentlich im August fertiggestellt werden. Allerdings sind völlig unerwartet zwei Probleme aufgetaucht, mit denen niemand rechnen konnte.

Offenbar aufgrund einer technischen Panne (man hatte keine Leiter, um die Kerzen hinter dem Glas ausblasen zu können), war es nicht möglich, während der Vollsperrung die Ampeln auszuschalten. Somit waren die Bauarbeiter dazu verdammt, während der Rot-Phasen die Arbeiten ruhen zu lassen, weil die Fahrzeuge mit dem dringend benötigten Nachschub sinnlos an der Kreuzung rumstanden.

Weil Sicherheit auf der Baustelle groß geschrieben wird, sind die Ampeln an der Dölziger Kreuzung die ganze Zeit in Betrieb. Es könnte ja mal ein Baufahrzeug kommen…

Als die Fahrbahn dann endlich so weit fertig war und die Straßenkünstler mit der Bemalung beginnen konnten, wurde der Bauleitung das nächste Problem gewahr. Man hatte in der Eile vergessen, in der Ausschreibung auf den geforderten künstlerischen Stil hinzuweisen. Hauptsache billig, lautete die Devise, als man die Leistung an das rumänisch-litauische Künstlerkollektiv Pinsulescu & Kritzolauskas vergab.

Beide Maler sind Vertreter des depressionistischen Masochismus, einer abschreckenden Ausdrucksform, deren Stilrichtung mit den geradlinigen Anforderungen modernen Straßenverkehrs kaum vereinbar ist. Da konnte weder das Argument einer achtspurigen Nutzung der Kreuzung noch das nachträglich eingereichte Exposé zum Kunstwerk mehr was retten.

Malen nach Zahlen. Wenn man dieses Schema auf einen Schnittmusterbogen überträgt, kommt ein Damenschlüpfer raus.

In Letzterem heißt es: „Die selbstoffenbarende Reflexion der Vielfalt imposanter Chemtrails am Himmel, die sich gleich eines Spiegelbildes auf die Straße zu projizieren scheinen, eröffnen der individuellen Wahrnehmung die tatsächliche Weite unserer Wege und sind zugleich eine nachhaltig wirkende Reminiszenz an den Einzugsbereich des naheliegenden Flughafens.“

Leider konnten weder die Bauarbeiter noch das Landesamt für Straßenbau und Verkehr mit diesem hochschwafelnden Geseier etwas anfangen. Jetzt kommen erst mal linien- und staatstreue deutsche Künstler zum Zuge, die sich in der gegenwärtigen Epoche der Schwarzmalerei einen Namen gemacht haben.

Sie müssen, selbstverständlich unter Wahrung denkmalpflegerischer Aspekte und Verwendung naturbelassener Rohstoffe, der Asphaltdecke zunächst ihre natürliche Grundfarbe zurückgeben. Wie es danach weitergehen soll, sei noch nicht geklärt, heißt es. Insider munkeln jedoch, dass Neo Rauch ein Porträt von Verkehrsminister Scheuer auf die Fahrbahn zaubern soll. In Öl, versteht sich.

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Dreidimensionaler Brutalismus

Wie man mit einer sinnvollen, durchdachten künstlerischen Installation weltweit für positives Aufsehen sorgen kann, zeigt dagegen eine kleine Exposition in der Lützner Straße kurz vor dem Friedhof.

Inspiriert vom einfallslosen, analog dahingeklatschten Poster eines Unternehmens, das seine Kunden offenbar auch visuell gern vermöbelt, haben findige Markranstädter eine kreative Lösung entbunden, um die Kernaussage dieses Marketing-Desasters zu retten.

Mal ehrlich: Die Braut auf dem öden Gestell haut’s auch nicht mehr raus. Der Hut von Yvonne aus der Olsenbande wurde zu oft gewaschen, die Herzkranzgefäße unter der schwarzen Zwillingsmütze möchte man am liebsten noch etwas düngen und der Strick an ihren Hüften diente sicher dazu, sie am Sofa zu befestigen, damit der von BMI 7 gezeichnete Leib im Winde des Ventilators nicht durchs Fotostudio weht.

Die desaströse Werbebotschaft ist klar. Sie schreit dem Betrachter dieser apokalyptischen Szene geradezu ins Gesicht: Mehr hält dieses Sofa nicht aus! Der Drink in der Hand des Knochen-Mobiles (man möchte ihr wünschen, dass es sich um Mastfutter handelt) soll lediglich verdeutlichen, dass es jenseits der erlaubten 35 Kilo Zuladung noch eine minimale Reserve gibt, bevor die Grundplatte des Möbels berstend splittert. Alexa, spiel mir das Lied vom Tod.

Tja, aber mit Mitleid allein kann man Ladenhüter wie das auf dem Plakat abgebildete Sofa (übrigens ein Original-Nachbau des Modells, auf dem sich Josef Stalin nach der Unterzeichnung des Potsdamer Abkommens hingeflätzt hat) heutzutage nun mal nicht vermarkten.

Da sind Ideen gefragt und wo, wenn nicht in Markranstädt mit seinen großen Vorkommen an bewusstseinserweiternden Stimulanzien, kann man die finden? Da die Dimensionen der Breite und Höhe bereits vollkommen in Anspruch genommen wurden, bleibt nur noch die Tiefe des Raumes.

Vorgelagertes Marketinginstrument nennt man das. Die Kernaussage lebt von ihrem Zusammenspiel zwischen zweidimensionalem Hintergrund und räumlich greifbarer Prespektive. Ein reales Hologramm sozusagen.

In einer geradezu einzigartigen Symbiose aus Kunst und Kreislaufwirtschaft wird dem eigentlich zum Sperrmüll verurteilten Ruhemöbel ein zweites Leben als Werbebotschafter zuteil.

Dem besonders aufmerksamen Betrachter kann es sogar aus dem Leben seiner bisherigen Besitzer berichten. Ganze Tagesabläufe lassen sich da rekonstruieren.

Chips-Krümel in der Gaming-Ecke erzählen vom Treiben des Kindes am Vormittag, während dessen Freunde in der Schule waren. Da, wo die Spermaflecken zu einem stilisierten Totenkopf verlaufen, hat Vater in der Mittagspause seine Beraterin vom Kiosk genagelt und dort, wo der Bezug aufgeschlitzt klafft, hat sich beim Aufstehen Mutters Intimpiercing verhakt. Wer nur einen Moment zu lange dieses Stilllebens mit Sofas ansichtig wird, dem erzählt es einen Roman. Kultur in Reinkultur.

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Reziproker Proportionismus

In eine ganz andere, ja sogar absolut überraschende und neuartige Kunstrichtung gehen die kreativen Ausdrucksformen derweil in Döhlen.

Zur Erinnerung: Wenn man in Markranstädt Vorher-Nachher-Vergleiche mit Fotos anstellt, sieht man vorher in der Regel Dinge voller Anmut und Schönheit. Auf dem Foto danach sind diese beschmiert, ein Fall für die Abrissbirne oder verbrannt. Die Fachwelt spricht hier von der „jakedumischen Evolution“, der sowohl Gebäude als auch Flora und Fauna anheim fallen.

In Döhlen haben Forscher jetzt erstmals eine Kultur entdeckt, die sich in der Gegenrichtung entwickelt. Die Einfassung dieses Abwasserschachtes, eine liebevolle Dekoarbeit mit Granitquadern, war noch am vergangenen Samstag völlig intakt.

Am Sonntag war sie zerstört und die Steine lagen weit in der Gegend verstreut in der Landschaft herum. So weit, so Markranstädt.

Kaum zu glauben, aber bei diesem Foto handelt es sich um eine „Vorher-Aufnahme“.

Dann aber das Wunder! Schon am Montagabend lagen die Steine wieder an Ort und Stelle, säuberlich um die Abdeckung herum angeordnet. Gut – jetzt nicht gerade handwerklich überzeugend, aber es ist ja auch noch kein Steinsetzer vom Himmel gefallen.

Noch kaumer zu glauben, dass es sich bei dieser „Nachher-Aufnahme“ tatsächlich um eine Situation danach handelt. Rohrstock, Karzer oder Erziehung nach DDR-Maßstäben?

Eher sieht es danach aus, dass es in Döhlen noch Eltern gibt, vor denen die Kids Respekt haben. Wer was kaputt macht, muss es auch wieder ganz machen. Ganz alte Schule. Irgendwie müssen die Döhlener noch im DDR-Bildungssystem verhaftet sein. Aber wie heißt es gleich: Es war nicht alles schlecht.


Wenn auch Sie im Alltag Beispiele des „Neuen Markranstädter Banalismus“ finden, zögern Sie bitte keine Sekunde, uns diese zuzusenden. Sie wissen ja:  redaktion@nachtschichten.eu

 

4 Kommentare

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    • Tilo Lehmann auf 26. August 2020 bei 14:49
    • Antworten

    Es lohnt sich also doch offenen Auges durch heimatliche Gefilde zu streifen. Was ist da alles „Sehnswert“. Danke für diese Schmunzette.

    1. Das würden wir ohnehin immer empfehlen. Mit geschlossenen Augen wirds gefährlich – nicht nur in Markranstädt.

    • Bürger auf 26. August 2020 bei 11:03
    • Antworten

    Dank für diesen amüsanten Beitrag.
    Wie mir zu Ohren gekommen ist, fährt seit der Sperrung in Dölzig/ Kreuzung kein Bus mehr nach Pristeblich?
    Sollte das stimmen, ist das sicher eine Zeile wert.

    1. Priesteblich? Warten Sie mal … Priesteblich, Priesteblich …

      Keine Ahnung was das ist, aber … siehe oben … die Zeile ist voll. Das wars uns wirklich wert. Danke für den Tipp.

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