Neues aus der vierten Etage (5): Klimawandel in Markranstädt

Die letzte Stadtratssitzung des Jahres, zugleich die allerletzte in der vierten Etage, brachte für die über 40 Beobachter im Publikum vor allem zwei Erkenntnisse. Erstens die, dass es höchste Zeit für den Umzug ins KuK ist und zweitens, dass die prosperierende Stadt am See inzwischen als monetäre Lebensader des Landkreises gilt. Ohne finanzielle Infusionen aus der Markranstädter Kämmerei sieht’s schlecht aus um den Öffentlichen Personennahverkehr. Und dann brachte da noch jemand eine Lösung für den angespannten Lallendorfer Wohnungsmarkt mit.

Gleich zu Beginn der Sitzung stand mal wieder die Zukunft der Bürgermeisterin als Stadträtin auf der Tagesordnung.

In einem Akt vorweihnachtlicher Menschlichkeit bewies der Stadtrat aber erneut mehrheitlich humanitäre Züge. Wieder stellte er sich hinter sein Mitglied Nadine Stitterich und ließ sie nicht gehen.

Eine Spitze auf die Spitze

Und das, obwohl sie der Öffentlichkeit bereits die Hand gereicht und sich mit einem Rückzug auf ganzer Linie offenbar arrangiert hat. Getreu vorweihnachtlich-christlicher Gepflogenheiten hatte Stitterich das Volk zuvor mit einem Gleichnis auf das mögliche Szenario eingestimmt. Der Weihnachtsbaum, den sie auf dem Marktplatz direkt vor dem Rathaus aufstellen ließ, hat keine Spitze. Deutlicher kann man ein Zeichen nicht setzen, ohne zu deutlich zu werden.

Einfach Spitze! Vor allem in der Vorweihnachtszeit, in der die Liturgie des christlichen Abendlandes oft mit Gleichnissen arbeitet, hat dieses Symbol eine deutliche Aussagekraft.

Einfach Spitze! Vor allem in der Vorweihnachtszeit, in der die Liturgie des christlichen Abendlandes oft mit Gleichnissen arbeitet, hat dieses Symbol eine deutliche Aussagekraft.

Jedenfalls war dieses Thema im Stadtrat nach drei Minuten durch. In Borna wetzt deshalb Weihnachtsmann Henry schon die Rute. Pünktlich zum Fest will er den Stadtrat mit einer Disziplinarmaßnahme überziehen, auf dass künftig so abgestimmt werde, wie es die Demokratie vorsieht.

Zwischen Durst und Heimweh

Dann begann die Leidenszeit für das Publikum. Die Gastfreundschaft des hohen Hauses hatte sich zuvor schon in der Bereitstellung zusätzlicher Stühle für den unerwartet hohen Besucheransturm vollkommen erschöpft.

Und so richteten sich die begehrlichen Blicke der Gäste angesichts gefühlter 35 Grad und von Körperausdünstungen auf 90 Prozent geschwängerter Luftfeuchtigkeit zunehmend auf die vor den Ratsleuten aufgetürmten Erfrischungsgetränke.

Aber jedwede Hoffnung des Volkes auf Nächstenliebe aus dem Kreise ihrer Volksvertreter erstarb mit jedem zischenden Öffnen eines Flaschenverschlusses und lächelnd entspanntem „Stößchen“ der Ratsleute ein Stück mehr. Wie hieß es doch schon am Vorabend der französischen Revolution? Wenn sich das Volk Wasser nicht leisten kann, soll es doch Smoothies trinken.

Arbeitsschutzkleidung

Als sich die Bürgermeisterin dann noch ihres wärmenden Tops entledigte und darunter ein geschickt geschnittenes, sommerlich knappes Textil zum Vorschein kam, war es um den Neidfaktor im Publikum endgültig geschehen. Reihenweise war in den Gesichtern des Publikums der Ärger darüber abzulesen, dass man mit seiner eigenen bürgerlichen Feinripp-Fashion unter dem Winterpullover denkbar schlecht vorbereitet war für einen längeren Aufenthalt im kommunalen Höllenfeuer.

Ein Fenster im Advent

Nicht nur um sich den lauernden Gefahren sowohl geistiger als auch körperlicher Dehydrierung zu entziehen, machten sich immer mehr Zuschauer auf den Heimweg. Von der Verheißung, dass sie damit auch ein Zeichen gegen die eingeschränkte Willkommenskultur in der vierten Etage setzen könnten, waren sie zwischenzeitlich längst geheilt. Das hohe Haus konnte sein Gewissen immerhin damit beruhigen, dass sich inzwischen ein Fenster geöffnet hatte. Es ist Advent.

Tanken, Parken, Wohnen

Und so bekamen die aus dem Ratssaal Geflüchteten leider nicht mehr mit, welch wegweisende Meilensteine auf die mit reichlich Erfrischungsgetränken gelabte Duma dann noch hernieder kamen.

So will ein Berliner Unternehmen mit einem Wohnbauprojekt in der Leipziger Straße alle Sorgen auf einen Streich lösen. Zwischen 70 und 90 Wohnungen will es errichten. Klar, dass dieser Umstand die überwiegend in sicherem Wohneigentum fernab des City-Ghettos siedelnden Hobby-Politiker wenig interessiert.

Wenn überhaupt, wurde der Begriff „bezahlbarer Wohnraum“ in den letzten Jahren bestenfalls von Heike Kunzemann (Linke) in den Mund genommen, wobei jeder ihrer Vorstöße von ihren Stadtratskollegen nicht einmal formgerecht ignoriert wurde.

Und so war es auch diesmal wieder nur Kunzemann, die zu dem Wohnprojekt auch Wohnungsfragen stellte.

Die anderen Räte interessierten sich eher für die Zukunft der Tankstelle oder wieviele Parkplätze dort geschaffen werden.

Infrastruktur für neuen Wohn-Adel

Richtig so, schließlich ist es den Bevölkerungsgruppen, die für Wohneigentum über 4.000 Euro pro Quadratmeter oder für Miete ab 13 Euro kalt aufwärts hinblättern können, nicht auch noch zuzumuten, dass sie zum Tanken nach Quesitz fahren oder vom Parkplatz bis ins traute Heim mehr als zehn Meter zu Fuß zurücklegen müssen.

Kommune übernimmt den Nahverkehr

Für Wohnungsfragen ist ohnehin kein Geld da, weil Markranstädt inzwischen als Großsponsor in den ÖPNV eingestiegen ist. Nachdem erst der Deutschen Bahn jährlich 30.000 Euro zugesagt wurden, damit deren Passagiere barrierefrei auf den Bahnsteig gelangen können, wird nun auch das neu eingerichtete Rufbus-System mit 40.000 Öcken pro Jahr beatmet.

Die Stadt Markranstädt entwickelt sich zum führenden Nahverkehrsversorger der Region und somit zum Vorreiter in der Mobilitätswende.

Vorreiter bei der Mobilitätswende

Als Dank gibt es vom eigentlichen Leistungsträger des ÖPNV, dem Landkreis, mannigfaltige Gegenleistungen in Form von Naturalien. Da werden auch schon mal eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge geschlossen oder ein Beschluss des Stadtrates ersetzt, damit dieser nicht Gefahr läuft, sich zu verstimmen. Die Netzwerke funktionieren.

Survival im Homeoffice

Aber davon haben viele der Live-Besucher nichts mehr mitbekommen. Durst, Klimaerwärmung und der natürliche Überlebenswille haben sie vorzeitig dahin zurückgetrieben, wo die Miete während der Veranstaltung trotzdem unbarmherzig weiterläuft.

8 Kommentare

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    • Simsalabim auf 8. Dezember 2024 bei 23:45
    • Antworten

    Das mit der fehlenden Spitze ist so nicht ganz richtig. Zumindestens im Rathaus ist seit dem 11.11. für fachlundige Führung gesorgt. Der MCC hat den Schlüssel ergattert und offiziell die Geschäfte übernommen. Mit Närrischen kennen die sich doch bestens aus. Für den Notfall steht sogar politische Expertise bereit. Ob der Präsident nun einen Karnevalsverein leitet oder eine Verwaltung läuft auf das Gleiche hinaus. Auf dem Trockenen muss auch nie wieder jemand sitzen und den Nahverkehr bringt der MCC auch gleich noch mit.

    1. Nur weil das Begleitpersonal dauernd „Lallendorf OHO“ skandiert, ist die MCC-Lok noch längst kein Rufbus.

    • Stadrat Lustig auf 8. Dezember 2024 bei 9:51
    • Antworten

    Sehr treffend formuliert.
    Als Dumaabgeordneter habe ich beruhigt zur Kenntnis genommen, dass nicht nur ich die Temperatur im Saal als unerträglich empfunden habe. Dachte ich doch tatsächlich es sei ein erneuter Infekt im Anmarsch, dabei wollte möglicherweise die Vorsitzende das ärmellose kleine Schwarze ohne Gänsehaut in Szene setzen.
    Das zahlreich erschienene Publikum hatte immerhin die Möglichkeit die (wieder einmal!) unnötig lange Sitzung frühzeitig zu verlassen, während die meisten Stadträte und -innen bis weit nach 23 Uhr aushalten mussten. Da half auch der offensichtliche Frohsinn der Dumavorsitzenden über mehrere einstimmig gefasste (eher Routine-) Beschlüsse nicht: ich war durch und reif für die Insel! Immerhin bekomme ich für diese monatlich stattfindende Humoreske 31 Euronen Sitzungsgeld, plus Getränk und garantiertem Sitzplatz, während der/die geneigte Bürger/-in kostenlos und durstig teilnehmen darf. Es lohnt sich also für die Stadtduma zu kandidieren.

    1. Wie jetzt: 31 Euro? Das macht ja bei der Sitzungszeit des letzten Events gerade mal eine Gage von 6 Euro die Stunde. Tipp: Da sich die Stadt jetzt offenbar als Nahverkehrsunternehmen betätigt, sollten die Stadträte in die Gewerkschaft der Lokführer eintreten. Sie werden sehen: Nach drei Sitzungen können Sie es sich sogar wieder leisten, in der Kernstadt zu wohnen.

    • Bernhard auf 8. Dezember 2024 bei 9:34
    • Antworten

    Herrlich! Herzlichen Dank für den äußerst unterhaltsamen Bericht aus dem „kommunalen Höllenfeuer“.
    Von solchen historisch überlieferen Zitaten wie „Wenn sich das Volk Wasser nicht leisten kann, soll es doch Smoothies trinken.“ kann es gar nicht genug geben. Ich habe mich köstlich amüsiert!

    1. Von solchen Sprüchen gibts genug. Wer auch immer den Ratssaal betritt, denkt doch zunächst: „Ein kleiner Schritt für einen Menschen …“ (Neil Armstrong). Sitzt man erst mal drin, fällt einem ein: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ (Sokrates) und schließlich fällt einem auf dem Heimweg ein: „„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ (Albert Einstein). Mit anderen Worten: Egal ob Mailand oder Madrid, Hauptsache Markranstädt.

    • Wanderer auf 8. Dezember 2024 bei 8:50
    • Antworten

    Danke wieder einmsl für die informative und unterhaltsame Lektüre. Ja, wenn man sich als reiche Kommune outet (CDU), muss man auch konsequent dazu stehen. Dafür dürfen die Busfahrgäste zukünftig ja auch länger reisen. Schüler lernen gleich mal ihre Umgebung kennen, wenn sie mit dreifachem Zeitaufwand ihren Schulweg über viele mehr Stationen nehmen können. Mit etwas Glück warten sie zuvor erst mal ne Stunde auf den Bus, in den sie sich dann drängeln dürfen. Sollten sie auf die Idee kommen, ihre Entfernungen mit dem Fahrrad zu überwinden, stehen sie vor einer echten Herausforderung des Alltags, Denn gefahrlos geht das in Markranstädt nicht ab. Erst recht nicht, wenn sie sich strikt an die Verkehrsregeln halten. Zum Radfahren ist hier schon einige Fantasie nötig, will man die Gefahren minimieren. Über ordentliche Wege und Verkehrsverhältnisse nachzudenken, dafür sehen die meisten Stadträte (gewiss gut motorisiert) selbst nach einem tötlichen Unfall keinen Grund. An Parkplätze für Autos wird aber sofort gedacht. Und Kämpfe um ihr eigenes Demokratieverständnis sind ihnen wichtiger. Okay, ich finde das gefühlt auch nicht i. O., sich in ein (Stadt)parlament wählen zu lassen, wenn man bereits Bürgermeister(in) ist. Aber schaut man sich die Politiker auch auf anderen Ebenen an, das ist gang und gäbe und rechtlich abgesichert. Also sollte man das auch mal akzeptieren, nachdem man die Zähne gefletscht hat. Bei der Rechtslage gibt’s wichtigere Kämpfe.

    1. Stimmt! Heimatkunde im Schulbus, so haben war das noch gar nicht gesehen. Der Sachkunde-Lehrer als Reiseleiter im rollenden Klassenzimmer. Beim Zwischenstopp am Gasthof Thesau gibts dann statt Rheumadecken oder Mitropa-Kaffeemaschinen (achteinhalb Tassen, hängender Filter mit Tropfverschluss) Pokemon-Karten und Wachsmalstifte in Form von Cannabis-Dübeln. Da möchte man doch glatt noch mal Schulkind sein.

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