Im Quesitzer Café „Analog“ wird die Zukunft serviert

Wir schreiben das Jahr des Herrn 2018. Auf dem DSL-Globus von Markranstädt leuchtet noch immer nur das Gebiet der Kernstadt brodelnd rot auf. Der Rest erscheint nach wie vor im Grau des Rauches, mit dem man Nachrichten von Dorf zu Dorf morst. Unser Reporter Mark Ranster ist jetzt im ländlichen Raum allerdings auf einen Akt verzweifelter Selbsthilfe gestoßen, der Pilotwirkung entfalten könnte. Quesitz macht sich auf den Weg ins Informationszeitalter.

Die Vielfalt der technischen Innovationen ist verwirrend. Als hätten ISDN, DSL, UMTS oder LTE nicht schon gereicht, sind da neuerdings auch noch solche Dinge wie ADHS, SARS oder Viagra im Gespräch. Da kann man schnell mal den Überblick verlieren. Dieser Gefahr will man sich in Quesitz nicht aussetzen. Hier wird ein  völlig neuer Weg beschritten und der heißt „analog“.

Die Quesitzer Dorfjugend blickte schon lange mit Neid auf Leipzig. In der Messestadt gibt’s kostenloses W-Lan für alle und wer keinen PC sein Eigen nennt oder von der Freundin beim Besuch von Pornoseiten nicht erwischt werden will, hockt sich einfach in ein Internet-Cafe.

Das gibt es jetzt auch in Quesitz, wenngleich etwas kleiner. Dafür aber analog und in ganz Markranstädt einzigartig. Das übersichtlich gestaltete Internet-Cafe in der Hauptstraße besticht dabei nicht nur hinsichtlich seiner technischen Ausstattung mit einer Reihe attraktiver Alleinstellungsmerkmale, sondern ist auch architektonisch ein wahres Kleinod.

Das Kommunikations- und Begegnungszentrum (KBZ) Quesitz wird auch liebevoll Internet-Café „Analog“genannt.

Der eingeschossige Baukörper überzeugt durch eine klare Formsprache und integriert sich damit nahtlos ins mittelalterliche Bauensemble des Ortes. Die tragenden Elemente erstrahlen in einem warmen Gelbton, lediglich unterbrochen von großflächigen Fassadenelementen aus Glas, die dem Inneren den unverwechselbaren Charakter einer lichtdurchfluteten Halle verleihen.

Die wahre Überraschung wartet jedoch nach dem Öffnen der stufenlos verstellbaren Eingangstür. Dem Besucher präsentiert sich mit der intelligent zugeschnittenen Kombination aus Foyer und Saal eine architektonische Meisterleistung.

„Bis zu drei Personen können sich hier gleichzeitig aufhalten“, erklärt Star-Architekt Feng Shui aus Hongkong und meint weiter: „Im Zeitalter der weltweiten Vernetzung entsteht somit schon an der Quelle der Information ein kleines Netzwerk zwischen realen Personen mit allen Merkmalen, die menschliches Zusammensein kennzeichnen.“

Viele Menschen, die zu Hause einsam an PC oder Smartphone sitzen, wüssten gar nicht mehr wie das ist, mit mehreren Personen in einem Raum zu kommunizieren. „Da wird zum Beispiel geschubst und gedrängelt. Auf diese Weise lernt die junge Generation, sich durchzusetzen. Die wissen doch teilweise gar nicht mehr, wie sie sich verhalten sollen, wenn da drin beispielsweise jemand furzt!“

Zukunftsweisend ist auch die installierte Technologie. Auf den ersten Blick deutet das im Retro-Look erstrahlende Design des Terminals eher auf Übertragungstechnik aus dem RFT-Zeitalter hin. Whatsapp in fleischfarbenem Schnürkorsett sozusagen. Aber der Eindruck täuscht. Hinter der Patina des Edelstahls und den im Vintage-Stil als Schalter getarnten Sensoren verbirgt sich jede Menge High-Tech.

Das Materialdesign erinnert an eine Autobahn-Toilette, aber dahinter verbirgt sich jede Menge High-Tech.

So kann man im Quesitzer Internet-Cafe nicht nur telefonieren, sondern hat Zutritt in die gesamte Welt der modernen Kommunikation. Sogar neuartige SMS, der letzte Schrei auf der Internationalen Funkausstellung 1992, kann man von hier aus versenden.

Und weil nach so kurzer Zeit noch nicht jeder Quesitzer mit dem Short-Message-Service vertraut sein kann, lacht dem Nutzer gleich unter dem Tastenfeld eine leicht zu verstehende Bedienungsanleitung entgegen.

SMS-Anleitung. Den Begriff „drücken“ sollte man allerdings nicht allzu wörtlich nehmen.

Auf das Angebot visueller Übertragungen, beispielsweise in Form von Videos oder Fotos, haben die visionären Planer ebenso verzichtet wie auf die Installation altmodischer Webcams und anderen nutzlosen Equipments.

Das Interieur wurde vielmehr ganz bewusst sehr schlank gehalten. „Da beispielsweise auf Dating-Seiten im Internet die meisten Fotos sowieso gefakt sind, soll sich der Nutzer auf die Kommunikation konzentrieren können und nicht durch bildlich geprägte Eindrücke abgelenkt werden. Für die Befriedigung der visuellen Bedürfnisse haben wir extra die großen Fenster eingebaut, die einen harmonischen Ausblick auf das naturnahe Idyll im Umfeld des Begegnungszentrums erlauben“, begründet Shui die attraktive Lösung für eine entschleunigte Kommunikation.

Den Vorwurf einiger Kritiker, dass es dem Projekt an Visionen fehle, entkräftet der Konfuzianer ebenfalls. „Wir haben da sehr, sehr weit nach vorne gedacht!“, rechtfertigt er sich und zeigt auf den intergrierten Pay-Slot des Systems.

Weit in die Zukunft gedacht

Der ermöglicht nicht nur den Geldtransfer mit unterschiedlichen Systemen wie Münzen oder Karten, sondern bietet neben der Euro-Währung sogar die Zahlung in D-Mark an. „Damit sind wir dem gegenwärtigen Stand in Europa schon mindestens fünf, im schlimmsten Fall sogar zehn Jahre voraus!“, frohlockt der kleine Mann mit dem großen Weitblick.

Visionäre Lösung: Die Bezahlung kann sowohl in gegenwärtiger Währung als auch in künftiger D-Mark erfolgen.

Jetzt muss das hypermoderne Kommunikations- und Begegnungszentrum (KBZ) in Quesitz nur noch von den Einwohnern angenommen werden. Shui weiß, dass das nicht einfach ist.

Wie immer, wenn die Schwelle in ein neues Zeitalter übertreten werden muss, tun sich die Menschen schwer mit Neuem. Zweifel, Vorurteile, Altersstarrsinn, zu lange in Markranstädt gewohnt – das Spektrum des Pessimismus ist breit gefächert.

Aber Feng Shui ist zuversichtlich. „Schon in zwei bis drei Jahren wird es für die Menschen hier im Ort selbstverständlich sein, zum Hörer zu greifen und Freunde oder Bekannte anzurufen. Ob für Euro oder dann doch schon für D-Mark, sei dahingestellt.“ Man kann sich, so sagte Konfuzius bereits, dem Fortschritt auf Dauer nicht verschließen. Mal sehen, wann die anderen Dörfer nachziehen.

 

1 Kommentar

    • Specht auf 23. Februar 2018 bei 6:56
    • Antworten

    Danke! So lieben wir Euch, MN in Hochform, das ist Informationskultur! Die älteren Leser werden angesichts des KBZ schon auch mal sogenannte „Telefonzellen“ assoziieren, aber zum Glück wissen ja nun sogar auch wir über das KBZ Bescheid!

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