Der Weihnachtseinkauf

Weihnachten und der Jahreswechsel haben ihre eigenen Bestseller. Die „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ zählen zu Weihnachten ebenso dazu wie „Dinner for one“ zu Silvester. Der Erfolg liegt dabei nicht allein in der Qualität, sondern in der steten Wiederholung. Nur einmal gespielt, wird kein Hit zum Hit. Und so bringen auch wir anno 2019 die Wiederholung unseres Klassikers aus dem Vorvorvorjahr. Natürlich in der Hoffnung, ihn damit noch in diesem Jahrhundert zum Bestseller werden zu lassen.

Die Geschichte beginnt an einem trüben Tag im Dezember. Auf der Suche nach ein paar kleinen Gaben für Frau und Kinder verschlägt es mich dahin, wo vor Weihnachten alle Sachsen auf die Suche gehen: In den Saalepark bei Leipzig. Der heißt jetzt „nova eventis“. Bei der Anfahrt versuche ich, diesen Begriff mit meinen spärlichen Lateinkenntnissen zu übersetzen. Irgendwas wie „neues Erlebnis“ müsste das heißen. Wie recht ich behalten sollte!

Mit kühnem Schwung nehme ich eine der Einfahrten in das neue Parkhaus und noch bevor mir von der Fahrt durch die verschiedenen Etagen schwindlig wird, finde ich einen freien Platz auf irgendeinem der zahlreichen Parkdecks. Zuversichtlich schließe ich mein Auto ab und nehme den nächstliegenden Eingang in den Konsumtempel.

So!

Verwirrt stehe ich da. Erschlagen von einem Trommelfeuer über mich hereinbrechender visuell, auditiv und nasal wirkender Eindrücke. Nervös gleitet mein Blick in die Runde. ‚Ruhe bewahren, alter Junge! Organisiert einkaufen und dann schnell wieder verschwinden.‘

Bunt!

Ja, bunt erstmal. Und Weihnachtslieder. Das ganze Spektrum von Ave Maria bis Zither-Musik. Nur eben nicht der Reihe nach, sondern alles auf einmal. Lediglich dem ganz aufmerksamen Zuhörer offenbart sich bereits hier das ganze Drama des nahenden Festes: „Kling-kling-kling Oh wie lacht so viel Heimlichkeit unterm Weißröckchen, mit seinen Schimmelchen steht der davor, hat nicht mal den Bär gefunden.“ Aber wer hört schon aufmerksam zu?

Information ist alles

Unsicher bewege ich mich auf eine Informationstafel zu. Ein paar schicke Dessous für meine Frau, ein Handy für den Großen und ein Spielzeug für mich und den Kleinen. Wenn man weiß, was man will, kann es nicht schwer sein, den Weg zu finden. Um die Informationstafel herum stehen Leute mit fragenden Gesichtern. Mit dem überlegenen Lächeln eines lebenserfahrenen Alleinverdieners nähere ich mich der Menschentraube. „Darf ich mal kurz?“ Die ältere Dame springt erschrocken zur Seite und gibt den Blick auf einen übersichtlich gestalteten Lageplan frei. Wo ist das Problem?

Okay: Übersicht ist alles

Das offenbart sich erst auf den zweiten Blick. Verzweifelt suche ich nach einem Geschäft für Damenwäsche, einem Spielzeugladen oder wenigstens einem Handy-Shop. Nach etwa zehn Minuten intensivsten Suchens drängt sich mir die Frage auf, ob ich in den letzten Jahren irgendwas verpasst habe? Eine neue Rechtschreibreform vielleicht? Die Umstellung von Namen auf Abkürzungen? Die Einführung einer EU-Sprache?

Neue EU-Sprache?

Früher gab es Bäcker, Herrenausstatter, Schuhgeschäfte, Modeshops oder HiFi-Läden. Da wusste man, woran man war und was einen dort erwartete. Was aber verbirgt sich hinter Bezeichnungen wie GEOX, BiBA, zero, Roland, ara, Viba, Esprit, Whörl, nanu-nana oder idee?

Unmerklich steigt mein Blutdruck. Mein Gesicht fühlt sich heiß an. Das kann aber auch vom Temperaturwechsel kommen. Draußen im Parkhaus herrschen Minusgrade, beim Betreten dieses Tempels wird man dagegen von gefühlten 35 Grad plus erschlagen. Es wird warm unter meinem Wintermantel. Aber ich konzentriere mich weiter auf den Lageplan.

Das große Latinum

Unschlüssig rätsle ich, ob ich zuerst bei „cecil“, bei „arco“ oder bei „Christ“ nach einem Handy fragen soll? Oder ob es bei „cosmo“ Spielzeug gibt? Da fällt mir ein Spruch ein, den mein Vater gern benutzte: ‚Der Weg ist das Ziel!‘ Also suche ich mir ein Geschäft aus, das am weitesten von der Informationstafel entfernt liegt – in der Hoffnung, unterwegs irgendwo fündig zu werden. Bei angeblich über 200 Geschäften muss das möglich sein.

Lösung auf C 27

Ich entscheide mich also für Lageplan-Nummer C 27, einem Geschäft namens „Jack & Jones“. Klingt wie eine Anwaltskanzlei in Boston. Es könnte jedoch ebenso eine Partnervermittlungsagentur sein. Vielleicht haben sie aber auch Handys? Egal, ich laufe los. Vorbei an vobis, bag stage, art decor, New Yorker…

Ich muss grinsen, als ich unter dem Schriftzug „Mondo“ die Ergänzung „Menswear“ lese. Zumindest reichen mein Englisch und meine Fantasie aus, mir einen Einkauf in diesem Shop ausmalen zu können. „Möchten Sie mal anprobieren? – Oh, da sollten wir vielleicht doch eine Nummer größer nehmen.“ Meine Stimmung hebt sich.

In der Mitte, gegenüber den Geschäften, befinden sich Bänke. Auf ihnen sitzen ausnahmslos gelangweilt dreinblickende Männer. Vor, neben und auf diesen Männern türmen sich Berge von Einkaufsbeuteln und auf diesen Beuteln wiederum entdecke ich die Schriftzüge von art decor, bag stage, Mondo oder New Yorker.

Zurückgelassene Männer

Weicheier! Lassen sich von ihren Frauen demütigen. Ich lächle überlegen und laufe weiter. Vorbei am Mustang Store (bin so gut gelaunt, dass ich trotzdem mal durch die Tür schaue, ob nicht zufällig ein paar Pferde drin stehen), zara, Broadway und Madonna. Schier endlos reihen sich die Geschäfte aneinander und nicht eines ist dabei, dessen Bezeichnung einen Hinweis auf das Angebot gibt. Gestresst erreiche ich das Ende des Ganges, der hier eigentlich Mall genannt wird. Es ist die erste von 8 Malls und ich habe lediglich die linke Seite absolviert. Langsam ergreift Ehrfurcht vor diesem Ort von mir Besitz.

Acht Malls und jede ein Grand Canyon

Weihnachtlich begrüßt mich der Eingangsbereich eines Buchhandels. Ich will kein Buch! Schließlich schreibe ich selber welche und ich kenne keinen Kammerjäger, der Rattengift frisst. Aber rechts davon finde ich „Jack & Jones“. Es ist keine Anwaltskanzlei, sondern ein Modegeschäft. Cool und hipp sollen die Klamotten sein. Nichts für meine Frau und auch nichts für mich.

Also bewege ich mich auf der gegenüberliegenden Seite der Mall langsam wieder zurück zum Epizentrum dieses Konsumausbruchs. Der Rücken tut mir weh und ich bin genervt. Ich will mich setzen, aber auf den Bänken ist kein Platz mehr. Überall Männer, Taschen und Beutel. Hier und da kommt mal kurz eine Frau, stellt ein paar neue Taschen zu ihrem Mann und geht wieder. Solche Weicheier!

Dessous in „gewaldchen Greeßen“

Meine Augen wandern nach rechts, zurück zu den Geschäften. Wow! Vor Erstaunen vergesse ich, nach dem Namen des Ladens zu schauen. Unterwäsche! Für Frauen! Ich gehe hinein und werde gleich von einer attraktiven Verkäuferin begrüßt. „Gannsch ihn‘ hälfm?“, eröffnet sie das Verkaufsgespräch im landestypischen Dialekt. Ich bejahe: „Was Schönes für meine Frau hätte ich gern.“, erläutere ich meinen Wunsch.

Die Dame verzieht kurz das Gesicht und antwortet: „Also, wennse Schdrabbse suchn oder sowas, da sinnse bei uns nisch richdsch! Mir ham bloß normale Undorwäsche.“ Ich blicke etwas betroffen um mich und stelle beschwichtigend klar: „Ja, ja, junge Frau. Was Normales bitte, vielleicht …“ Sie unterbricht mich: „Ä schiggn Beha?“ Mein Gesicht hellt sich auf. „Ja, warum nicht? Einen BH bitte.“ Jetzt lächelt auch die Dame wieder. Sie fragt nach der Größe.

Ohrenbetäubende Stille

Meine Rückenschmerzen sind schlagartig verschwunden. Größe? Wie jetzt? Ich denke angestrengt nach, wann meine Frau das letzte Mal im Zusammenhang mit ihrer Kleidung eine Zahl nannte. „Ähm…“, bringe ich hervor. Nur einen Atemzug später blickt die Dame wie versteinert auf meine Hände, die eine imaginäre Kugel formen. Ich schätze deren Durchmesser und sage vorsichtig: „Zwanzig, zweiundzwanzig?“ Jetzt findet die Verkäuferin ihre Worte wieder, schüttelt den Kopf und sagt: „Also, wennse nisch ma de Greeße wissn, dann wird das nischt. Außerdähm ham mir hier bloß bis Gerbchngreeße C. Un was sie da zeichn, mei Herr, also das is schon ziemlich gewaldch. Wissen se’s nich wehnichstens ungefähr?“ Ich will das Gespräch beenden. Hinter mir stehen schon vier belustigte Frauen, die bezahlen wollen. Also erkläre ich kurz: „Ich werde meine Frau zu Hause fragen und dann noch einmal zurück kommen.“

Ich will eigentlich nur noch hier raus

Im nächsten Moment stehe ich wieder auf der Mall. Mein Rücken schmerzt stärker als vorher und auch die Beine tun mir langsam weh. Ich blicke auf die Uhr. Über eine Stunde turne ich nun schon durch das Shopping- und Erlebniscenter. Von den Weicheiern auf den Bänken sehe ich mittlerweile nur noch die Köpfe, die über den Gipfeln der sich vor ihnen auftürmenden Beutel und Taschen thronen. Na ja, denke ich, wenigstens können sie sitzen und denen tut bestimmt nicht der Rücken weh. Sie müssen auch nicht irgendwelche Geschäfte mit irreführenden Bezeichnungen suchen.

Notruf aus dem App-Store

Während ich mich vorwärts quäle, erhaschen meine Augen über einem Geschäftseingang die Buchstaben „tel“. Der vordere Teil wird durch einen gigantischen Tannenzweig verdeckt. Aber die markante Farbe aktiviert meine letzten Kräfte, erinnert sie mich doch im Zusammenhang mit den drei Buchstaben an einen Telefonanbieter. ‚Handy!‘, fährt es mir durch den Kopf und zielgerichtet kehre ich ein.

Vor mir steht zwar lediglich ein Kunde am Ladentisch, aber der fordert das gesamte Habitat an Aufmerksamkeit und Fachwissen des jungen Verkäufers. Nach zehn Minuten, in denen sich meine Bandscheiben restlos verflüssigten, ist zumindest klar geworden, dass der ältere Herr vor mir auch ein Handy haben will. „Welche Features soll es denn haben?“, fragt der Jugendliche, dessen Namensschild auf dem Revers ihn als Giuseppe Schimmer identifiziert. „Vjudschers müssen da nicht dran sein, ich will nur anrufen.“, bleibt der graue Herr die Antwort nicht schuldig. „Na ja.“, fährt der Halbwüchsige hinter dem Tresen fort: „Mit dem hier können sie beispielsweise auf Facebook posten und sie haben auch vorinstallierte Apps Twitter und Whatsapp.“ Der Senior starrt regungslos auf das vor ihm liegende Telefon.

Diese Starre interpretiert Herr Schimmer offensichtlich als zweifelndes Zögern und setzt noch einen drauf: „Im App-Shop können sie natürlich zahlreiche weitere Apps, MP3’s und Games abholen.“ Jetzt richtet sich der alte Mann auf und blickt verzweifelt durch das Schaufenster auf die Mall. Ich habe den Eindruck, seine Augen suchen unter all den Geschäften da draußen eines, über dessen Eingang „App-Shop“ steht. Er tut mir leid.

Dabei wollte er nur telefonieren

Noch größer wird mein Mitleid, als der Mann flehend seine bescheidenen Ansprüche formuliert: „Aber ich will doch nur telefonieren. Haben sie nicht was, womit man telefonieren kann? Verstehen Sie? An-ru-fen!“ Ich bin gute 20 Jahre jünger als dieser Herr vor mir, aber ich fühle mich in diesem Moment so was von verwandt mit ihm. Dieses Einkaufscenter hat mich in nur anderthalb Stunden offenbar zu einem seelischen Greis gemacht.

Endlich gibt sich der Grauhaarige geschlagen. „Ich werde zu Hause meine Frau fragen und dann noch einmal zurück kommen.“, beendet er die Angelegenheit. Mir ist, als hätte ich diesen Satz heute schon gehört.

Ich bin dran. Um mir keine Blöße zu geben, schaue ich dem alten Mann hinterher, schüttle meinen Kopf und lasse dem Verkäufer ein „Tse, tse, tse.“ zufliegen. „Für solche Leute gibts Telefonzellen.“, lästert dieser und fragt mich: „Was kann ich für sie tun?“ Siegessicher schaue ich ihm in die Augen und sage: „Ich hätte gern ein Handy mit folgenden Features: postfähig auf Facebook, vorinstallierte Apps von Twitter sowie Whatsapp und natürlich muss man damit auch anrufen können.“ „Natürlich.“, entgegnet Giuseppe Schimmer, den ich im Geiste schon zu Beppi Schimmerlos degradiere. Schließlich brauche ich dringend ein Erfolgserlebnis. Warte, dir werd ich’s zeigen!

Zu Hause meinen Sohn fragen…

Mitten in dieses Hochgefühl hinein fragt mich dieser arrogante Rotzlöffel mit gegeltem Haar: „TwinCard? SIM-Kartentausch oder neu? Flat, Doppelflat oder Superflat?“ Während mein Unterkiefer Kontakt zur Krawatte herstellt, greift Giuseppe Schimmer in einen Glasschrank und zeigt mir ein Gerät: „Das ist mit Touchscreen, unterstützt UMTS-Broadband, hat Bluetooth, ein Headset und verfügt über eine 15,5 Megapix-Cam. Genau das Richtige für einen technisch versierten Kenner wie sie. Ein hochwertiges Produkt mit allen wichtigen Merkmalen für Entscheider, die genau wissen, was sie wollen. Damit sind sie sowohl privat als auch im Businessgeschäft bestens aufgestellt.“ Ich beginne zu zweifeln. „Das ist eigentlich für meinen Sohn gedacht.“, höre ich mich zaghaft äußern. „Na das ist doch noch besser! Hören sie, das ist genau das Modell, das jetzt gerade hipp ist! Cool, verstehen sie?“ Hipp & cool, Jack & Jones – die Bilder in meinem Kopf beginnen zu kreisen. Ich blicke verzweifelt aus dem Schaufenster auf die Mall. „Mein Sohn … ich werde zu Hause meinen Sohn fragen und dann noch einmal zurück kommen.“, antworte ich abwesend.

Auf dem Weg zum Parkhaus komme ich an der Apotheke vorbei, kaufe eine Packung Schmerztabletten und werfe mir an Ort und Stelle zwei Stück ein. Eine Dritte nehme ich zwei Stunden später im Parkhaus, das ich auf der Suche nach meinem Auto einmal komplett durchwandert habe. Alle vier Decks, versteht sich.

Vom Macher zum Weichei

Mein Körper ist eine einzige Wunde und meine Seele steht ihm nicht nach. Ich leide! Wenigstens habe ich durch den Besuch in der Apotheke auch etwas geshoppt. Damit hält das Shopping- und Erlebniscenter an Ende auch, was sein Name verspricht.

Trotzdem oder gerade deshalb lasse ich den Valentinstag, den Frauentag, Ostern und den Muttertag im nächsten Jahr ausfallen. Und zu Weihnachten werde ich mit meiner Frau ins „nova eventis“ fahren, mich auf eine Bank setzen und warten, bis sie mir die Taschen bringt. Wenn ich es schaffe, mir die Parkplatznummer zu merken, kann das sogar ein richtig schönes Nova-event werden. 

 

3 Kommentare

    • Der Seebenischer auf 22. Dezember 2019 bei 21:39
    • Antworten

    Liebes MN-Team,
    einfach nur Danke für all das Schöne was ihr uns das ganze Jahr über beschert!
    Danke dafür!
    Ein frohes Weihnachtsfest, und möge den Jakedumas in Markranstädt und der ganzen Welt vor Silvester das Geld für den Sprengstoff ausgehen! Euch und Euren Lesern alles Gute im neuen Jahr!

    • Daniela Haupt auf 19. Dezember 2019 bei 10:11
    • Antworten

    Vielen Dank, der Beitrag ist ein einziges event, das größte daran ist, mehrmals den Satz lesen zu dürfen „…zuhause meine Frau fragen…“. Das ist vielleicht das wahre Weihnachtswunder, tatsächlich mal in die Männerseele schauen zu dürfen! In diesem Sinne wünsche ich allen Nachtschichtlern ein ganz besonders schönes Fest und bevor Ihr was kauft, fragt die Frauen!

    1. Unsere Frauen fragen? Das machen wir immer!!! Nur mit der Interpretation der Antworten haben wir so unsere Probleme. Wenn sie beim Shopping beispielsweise den Wunsch verspürt, ein paar neue Stiefel zu bekommen, sagt sie, dass der Boden in diesen Einkaufszentrum fußkalt ist. Tja, da muss sie sich nicht wundern, wenn sie zu Weihnachten einen neuen Kochtopf bekommt, in dem sie sich eine heiße Suppe zubereiten kann. Wir Männer denken halt praktisch. Und ganz ehrlich: Wer kommt schon auf die Idee, sich ein wärmendes Süppchen in Stiefeln zu kochen?

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