Wenn ein Bundespolitiker unangenehme Fragen gestellt bekommt, beginnt er seine Antwort mit der Floskel „Lassen sie mich zunächst einmal sagen…“ und referiert dann so lange über Goldfische oder die Rolle der Bedeutung, bis das Band des Journalisten voll oder der Akku des Diktiergerätes leer ist. In Markranstädt hat man jetzt eine völlig neue, geradezu innovative Idee entwickelt. Man lässt sich Fragen gar nicht erst stellen, sondern diktiert sie zur passenden Antwort gleich mit.
Das Geheimnis ist so offen wie einst das rechte Bein von Günter Mittag: Nach dem Kabel des Bürgermeisterbüros hat seit einiger Zeit auch das vom Presse-Aquarium in der Chefetage des Rathauses zur Redaktion der lokalen Gazette einen Defekt. Die Reparaturarbeiten könnten sich noch eine Weile hinziehen, weil noch nicht geklärt ist, welcher Netzbetreiber zuständig sein soll. Da ist es ein unglücklicher Zustand, wenn man einen Sprecher hat, der somit niemanden zum Sprechen hat. Die ebenso einfache wie geniale Lösung: Man interviewt sich erstmal selbst.
Wer mit offenen Augen durch Markranstädt geht, der sieht öfter mal Menschen, die nicht nur einfach den Mund bewegen, sondern bisweilen sogar recht heftig mit sich selbst diskutieren, ja sich sogar beschimpfen. Da müssen teilweise üble Kindheitserfahrungen oder andere Traumata im Spiel sein. Andererseits: Es gibt wohl kaum jemanden, der nicht schon mal davon geträumt hat, ein Interview mit sich selbst zu führen und so die böse Welt da draußen mit seinen Gedanken zu konfrontieren.
Bedenklich wird’s nur, wenn das auch noch klappt. Alt-Kanzler beispielsweise, abgetakelte Exfrauen von Bundespräsidenten, ehemalige Politbüromitglieder und manchmal sogar in Falten gealterte Bundesliga-Fußballer erbrechen solche Selbstinterviews als Memoiren getarnt gleich bücherweise übers Volk, um noch für einen kurzen Moment dem öffentlichen Vergessen zu entrinnen.
Interviews sind sowieso eine Sache für sich. Da gibt es die unglaublichsten Techniken. In Sachsen-Anhalt drüben hat es die Redakteurin einer Tageszeitung sogar schon fertiggebracht, einen Politiker um ein paar Aussagen zu bitten und sicherte ihm im Gegenzug zu, für seine Antworten dann die passenden Fragen zu finden. Ist wirklich passiert! Aber da war wenigstens der Schein gewahrt, weil das von den einfältigen Lesern, die sonst nur völlig gedankenlos über die Lügenpresse meckern, sowieso keiner gemerkt hat.
Nun ja, nicht zuletzt haben sich auch die Markranstädter Nachtschichten dieser unlauteren Form persönlicher Meinungsmache schon nachhaltig bedient. Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls wurde da im Oktober 2014 ein MN-Urgestein interviewt. In Ermangelung einer Sprecherin (es ist ja bekannt, dass wir nicht einmal das Porto für die Rücksendung einer Initiativbewerbung haben) hat die Fragen eine beruflich gescheiterte Physiotherapeutin aus den eigenen Reihen gestellt und damit bewiesen: Satire darf alles!
Auch das Stadtjournal „Markranstädt informativ“ darf so manches. In der jüngsten Ausgabe beispielsweise interviewte sich dort die MBWV selbst und gab Informationen preis, die man der Presse dem Vernehmen nach wenige Tage vorher nicht geben wollte.
Nun aber zum aktuellen Geschehen im Rathaus. Am 1. April reichte es zu einem medial zwar kaum wahrnehmbaren, aber immerhin recht originellen „Drive-in-Wedding“. Hochzeit am Schalter, ohne das Auto verlassen zu müssen. Manchem hätte eine Blitz-Scheidung an der Bar im Filmriss mit Getränkekarte statt Düsseldorfer Tabelle zwar ein breiteres Spektrum individueller Phantasie eröffnet, aber der Gag war okay. Es war ja nur der 1. April. Vorgestern nun, genau 14 Tage später, quälte sich wieder eine Pressemitteilung durch sächsische Ticker, die auf den ersten Blick den Eindruck hinterließ, als hätte man verpasst, sie am 1. April zu versenden: Die Rathaussprecherin hat ihren eigenen Chef interviewt und diesen Meilenstein investigativen Journalismus‘ an die Presse verschickt.
Jo, das nennt man Service! Da muss dann aus der Redaktion niemand mehr stundenlang im Rathaus anrufen bis sowieso keiner ran geht und man kann sich auch die Zeit für die Formulierung eines schriftlichen Auskunftswunsches sparen. Noch bevor der Gedanke an ein Interview aus der Feder des Journalisten geflossen ist, flattert das fertige Frage-Antwort-Spiel schon wie von Zauberhand getragen ins Haus. Nicht mal die Fragen muss man sich mehr ausdenken. Da bleibt in der Redaktion mehr Zeit für den Wetterbericht oder einen analytischen Rückblick auf die nächsten Lottozahlen. So funktioniert moderne Öffentlichkeitsarbeit! Oder könnte zumindest. Möglicherweise. Na ja, zum Glück nicht.
Das Interview an sich liest sich wie eine deutlich verspätete inhaltliche Reminiszenz an den zurückliegenden Beitrag im Leipzig-Fernsehen. Besser gesagt an all das, was da nicht gesendet wurde. Also im Grunde genommen an alles, was in den je nach Gusto des Zuschauers letzten oder ersten 500 Tagen Amtszeit des Bürgermeisters so gelaufen ist.
Harmonie zwischen Frage und Antwort
Wie nicht anders zu erwarten, wenn man sich die Fragen selbst stellen darf, waren die Darlegungen recht ausführlich und auf einen möglichst sympathiefördernden Tenor gerichtet. Spätestens dann, wenn sich doch eine Zeitung finden sollte, die das auch abdruckt oder sich eine andere Form des Transports an die Öffentlichkeit bietet, wird das Poem sicher auch einer fachlichen Bewertung in Kreisen der vorzugsweise in sozialen Netzwerken agierenden Kritiker unterzogen. Das müssen sich Satiriker nicht auch noch antun. Doch wenigstens einen Satz mit satirischer Duftnote und damit eine Ersatzrechtfertigung für diese Ausführungen soll an dieser Stelle herausgezogen werden.
Vierteiler im Kopfkino
Auf seine kritische Frage, was er denn in Zukunft so vor habe, antwortete sich der Bürgermeister: „Als nächstes möchte ich endlich die Sanierung des vom Hochwasser geschädigten Fußballplatzes des SSV Kulkwitz beginnen …“ Also, die Ich-Form dieses Satzes provoziert im individuellen Kopfkino des Lesers nicht nur eine Szene, sondern gleich einen ganzen Blockbuster. Inklusive vier Fortsetzungen.
Da könnte es dann in Teil 3 heißen: „Was bisher geschah: Sonntag morgen in Kulkwitz. Sanierer Jens hat einen einsamen Job. Er ist angetreten, den Sportplatz des SSV Kulkwitz zu retten. Während das verschlafene Dorf beim ersten Hähnekrähen langsam erwacht und irgendwo in der Ferne ein hungriges Schaf blökt, holt der einsame Arbeiter im Schein der aufgehenden Sonne Schaufel und Spitzhacke aus dem Kofferraum seines JR-1, krempelt sich die Ärmel hoch und blickt entschlossen hinunter in die SSV-Arena. Nur Sekunden später teilt der blitzende Stahl seiner Spitzhacke kraftvoll das Erdreich, während die Schaufel in der linken Hand des heldenhaften Sanierers gleichzeitig einen rotierenden Kreis beschreibt…“
Hach, Satire kann so unterhaltsam sein. Heute bleibt der Fernseher mal aus.
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