Die Standortmerkmale einer Stahlarbeiter-Stadt

Da es eine explizit für Markranstädt aufgestellte Statistik über Fahrraddiebstähle nicht gibt, muss man sich auf sein Gefühl verlassen. Und das wird in den letzten Tagen irgendwie immer flauer. Nimmt man die in den sozialen Netzwerken kursierenden Verlustmeldungen als Indiz, muss Lallendorf eine Hochburg für entwendete Drahtesel sein. Was ist hier los und warum ausgerechnet Markranstädt? Der Versuch einer Erklärung …

Die Zahl tausend hats in sich in letzter Zeit. Erst erlitt der Bürgermeister sein tausendtägiges Jubiläum, dann verweigerte sich ein Seebenischer Verein der Angabe von tausend Zuschauern so lange, bis es die Gäste endlich taten und nun kann wahrscheinlich irgendwann in den nächsten Tagen der tausendste Fahrraddieb in Markranstädt beglückwünscht werden. Man mag die Zahl mit den drei Nullen gar nicht mehr lesen.

Die Entwicklung der Zahl von Fahrraddiebstählen sollte zu denken geben. Das sind mehr als nur Bagatelldelikte gegenüber fremdem Eigentum. Auch die Gesellschaft verliert an Ansehen, wenn da nicht bald durchgegriffen wird. Markranstädt droht der Verlust seines Images als Sportstadt.

Unsere Standortmerkmale treffen zunehmend eher auf eine traditionelle Stahlarbeiterstadt zu. Nicht für Schweden- oder Kruppstahl allerdings, sondern für die Marktnische Diebstahl.

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Auch fast das gesamte Team der Markranstädter Nachtschichten zählt bereits zum Kreis der Opfer. Lediglich zwei Mitinsassen sind nicht betroffen. Einem wurde das Fahrrad schon vergangenes Jahr im Urlaub geklaut und unsere Tippse ist sozusagen immun, weil sie gar keins hat.

Dass man es mit einem geklauten Fahrrad heute nicht mal mehr in die Rubrik „Was sonst noch geschah“ der Tageszeitung schafft, spricht schon für sich.

Ähnlich wie früher die runden Jubilare der Volkssolidarität wäre es heute wahrscheinlich übersichtlicher, einfach alle Nichtbeklauten aufzuzählen. Man kann offenbar schon von Glück sprechen, bei der Polizei zur Abgabe einer Anzeige vorgelassen zu werden.

Anzeige per Diebstahlautomat?

Ein Diebstahlopfer der Markranstädter Nachtschichten bekam bei seinem Versuch jedenfalls schon die Frage zu hören, warum er sich deswegen auf den Weg gemacht habe. Man könne sowas doch heute der Einfachheit halber gleich per Internet erledigen. Auf polizei.sachsen.de gäbe es da extra einen Button

Zum Verlust des Drahtesels kommt dann noch das schlechte Gewissen dazu, dass man den Freund und Helfer bei wichtigen Ermittlungsaufgaben gestört hat. Trotzdem sollte kein Opfer auf den Gang zur Polizei verzichten, denn lustig ist das allemal. Man wird zum Beispiel gefragt, ob das Veloziped zur Tatzeit angeschlossen war.

Bei unserem Mann ist dies der Fall gewesen und er fragte den Uniformierten, ob es denn üblich sei, dass Fahrräder neuerdings samt Schloss geklaut würden. Immerhin gäbe es ja Bolzenschneider und so. Der Mann mit der Dienstmütze antwortete darauf, dass die Täter wohl wüssten, dass vor Ort zurückgelassene Reste des Schlosses ihre DNA-Spuren aufweisen könnten, anhand derer man sie überführen kann.

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Im Oktober 2015 samt verriegeltem Fahrradschloss in Markranstädt gemaust …

DNA-Analysen bei Fahrraddiebstählen, die man noch Sekunden zuvor der Minderung des Aufwands wegen bei einem Automaten anzeigen sollte? Das kommt einer mündlichen Bewerbung bei den Markranstädter Nachtschichten gleich. Mist, dass man in solch einer Situation nicht einfach loslachen darf. Damit würde man die Trauer um den Verlust des Eigentums ad absurdum führen und vielleicht selbst noch eine Anzeige wegen vorsätzlicher Behinderung bei der Beleidigung einer Amtsperson riskieren.

Nö, es sind Bagatelldelikte und genauso werden sie in der öffentlichen Wahrnehmung auch behandelt. Einzig mit der abschließenden Mitteilung der Staatsanwaltschaft wird dem Opfer nochmal ein gutes Gefühl gegeben.

Der gebeutelte Bürger, der seither zu Fuß laufen und den auf Fahrrädern vorbeiflitzenden Neubürgern aus dem Weg springen muss, hatte bisher das Gefühl, dass er wie einer behandelt wurde, dem eine Banane aus dem Einkaufswagen gefallen ist. Nun erfährt er plötzlich, dass offenbar der gesamte Ermittlungsapparat des Freistaats nur wegen ihm auf den Beinen war, weil es sich um einen „besonders schweren Fall des Diebstahls“ gehandelt hat, der da soeben zu den Akten gelegt wurde. Na immerhin.

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… im Juli 2016 als „besonders schwerer Fall des Diebstahls“ ad acta gelegt.

Zumindest scheint sich die Situation in Lallendorf so zu entwickeln, dass man sich gut aufgehoben fühlt. Also rein mental. Man ist Teil einer Mehrheit und das ist immer gut für die Seele. Die Mehrheit der Beklauten. Wir sind wenigstens unter uns.

Die Bundestagswahlen nahen und wir dürfen gespannt sein, wie man dieser Mehrheit potenzieller Wähler ein grundlegendes Gefühl der Sicherheit zurückgeben möchte, ohne uns mit der Antwort zu verunsichern.

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Das ginge zum Beispiel mit statistischen Mitteln. Die Textaufgabe lautet: Um wieviel Prozent sind die Fahrraddiebstähle gesunken, wenn sich zwar die Zahl der Diebstähle verdoppelt, aber gleichzeitig die Zahl Fahrräder vervierfacht hat? Okay, schwerer Stoff, an dem sogar BWL-Studenten scheitern können, weil nicht nach Einsparungspozenzial an Arbeitskräften gefragt wird. Aber es geht. Probieren Sie es mal: Sie werden staunen!

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Inzwischen werden Fahrräder am hellichten Tag samt Schloss aus den Ständern vor den Einkaufsmärkten gehoben und davongetragen, am Bahnhof verschwinden sie ebenso wie aus Kellern oder Tiefgaragen, deren Hinweisschilder zur Videoüberwachung in Placebo-Pressen gedruckt wurden. Und in der Öffentlichkeit gibt es weder Informationen, noch Stellungnahmen oder wenigstens die Aussage, dass man um diese Entwicklung weiß und was zu unternehmen gedenke.

Natürlich gibt es auch die berühmten Erfolgsgeschichten von Leuten, die diese Sache selbst in die Hand genommen haben. Da war zum Beispiel der Mann, der deshalb sonntags in die Kirche ging, um die Gesichter der Gemeinde zu beobachten, wenn der Pfarrer beim Ablesen der zehn Gebote zu Nummer sieben kommt.

Hintergrund: Wer bei „Du sollst nicht stehlen“ das Gesicht verzieht, ist der Täter. Allerdings war der Mann schon nach dem sechsten Gebot wieder aus der Kirche verschwunden, denn als der Pfarrer sagte „Du sollst nicht ehebrechen“, ist ihm plötzlich wieder eingefallen, wo er sein Fahrrad stehen ließ…

(Screenshots: facebook und ebay Kleinanzeigen; allesamt Fälle aus den letzten 8 Tagen)

 

 

3 Kommentare

    • jabadu auf 1. September 2016 bei 22:32
    • Antworten

    Ich denke man kann die „Maus-Quote von Fahrrädern“ nur statistisch senken, volkstümlich gesagt schön rechnen. Anders ist Erfolg nicht zu erreichen. Dass das ganz einfach ist und in Markranstädt ähnliche Textaufgaben erfolgreich gelöst werden, zeigt das Beseitigen des Gestank-Problems in der Räucherei Leipziger Straße. Betriebsstunden des Räucherofens ohne Rauch erhöht, und schon sinken die „stinkenden Stunden“ von 13,8% auf 4,2%. Sieht doch gut aus. Stinkt aber trotzdem.
    Also, Markranstädter kauft Fahrräder. Es wird besser werden. Statistisch.

  1. Alleecenter (nicht dieses Jahr). 2 Räder mit insgesamt 4 !!! Schlössern (eins davon war Speichenschloss) – und beide codiert – an einen sogenannten Fahrradbügel (vor der Sparkassenfiliale) festgemacht. Wir waren weniger als 10 min im Alleecenter – als wir wieder heraus kamen, standen an exakt derselben Stelle 2 große dunkle fremde Räder mit Schloss. Keine Sput weit und breit von unseren, auch kein Rest eines ggf durchtrennten Schlosses. Direkt daneben war ein AVB-Stand. Auf Anfrage Antwort „nein, wir haben nichts gesehen und uns ist auch nichts aufgefallen“. Da guckste blöd aus der Wäsche! Keins der Räder tauchte je wieder auf. Das Rad vom Kind war neu (BMX). Kind bekam wenige Wochen später nagelneues Mountainbike – das verschwand kurz danach in Markrans über Nacht. Pure Freude. Seitdem stehen die Räder nachts und im Winter unterm Dachboden (freudiges Geschleppe!). Selbst die so oft angepriesene Codierung bringt in Wirklichkeit nichts.
    Buschfunk schulpflichtiges Kind einst: man kann gar gezielte Bestellungen „an einen, der einen kennt, der einen kennt, der auskennt“ geben. Bis hin zu Außenbezirken der Stadt Leipzig, straßengenau und Farbe/Modell.
    Zuvor war mir nur geläufig „das sind Besoffene im Affekt und nur faul zum Laufen bis nach Hause“

    1. Das mit den „gezielten Bestellungen“ haben wir inzwischen auch erfahren … und dass die Fahrräder auch gleich mal für 5 oder 10 Euro (das muss wohl für einen Trip reichen) weiterverkauft werden.

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