Eine Markranstädter Legende nimmt ihren Hut

Weil das Gebäude der Markranstädter Grundschule einem Schiff nachempfunden wurde, sollte man annehmen, dass die gesamte Einrichtung dem Seefahrtsrecht unterworfen ist. Demnach müsste hier auch die Maxime gelten: Frauen und Kinder zuerst, der Kapitän verlässt als Letzter das Schiff! Am Mittwoch war allerdings genau das Gegenteil der Fall. Alle anderen blieben zurück, nur die Kapitänin ging von Bord. Jedoch nicht fluchtartig wie einst Francesco Schettino von der Costa Concordia, sondern mit allen Ehren, die man sich nach einem erfüllten Berufsleben nur wünschen kann. Sogar Tränen sind geflossen.

Ziehen wir als Gleichnis also nicht die Seefahrt heran, sondern eine bekannte Bildungseinrichtung.

Hogwarts zum Beispiel, die Ausbildungsstätte von Harry Potter. Dessen Schulleiterin im Hause Gryffindor war Professorin Minerva McGonagall.

Die Muggel-Pädagogin

An der Markranstädter Grundschule wurde diese Funktion seit 2013 von Simone Müller wahrgenommen. Mindestens ebenso beliebt wie ihr literarisches Gleichnis McGonagall, hatte die gebürtige Lützenerin allerdings eine ungleich schwerere Aufgabe. Denn Simone Müller ist nicht nur selbst bekennender Muggel, sondern musste sich Zeit ihres beruflichen Lebens auch ausnahmslos mit Muggel-Kindern beschäftigen.

Lehrerin ohne Zauberstab

Und obwohl sie also nicht zaubern kann, hat sie dabei so viele Kunststücke vollbracht, dass sich am Mittwoch sogar hochdekorierte Würdenträger der Schulbehörden in der Stadthalle einfanden, um die Legende unter den Markranstädter Schulleitern in den Ruhestand zu verabschieden.

Überraschung mit Gänsehaut und Tränen

Weil Simone Müller davon nichts ahnte, war die Überraschung so groß, dass sie sich vor dem anschließenden Interview mit den Markranstädter Nachtschichten erst einmal die Augen trocknen und den Lidstrich nachziehen musste.

Das Bild sagt alles: Dagegen ist jeder Zapfenstreich bei der Verabschiedung eines Bundeskanzlers ein Trauerspiel.

Das Bild sagt alles: Dagegen ist jeder Zapfenstreich bei der Verabschiedung eines Bundeskanzlers ein Trauerspiel.

Viele Kulkwitzer werden Simone Müller noch unter ihrem Mädchennamen Pleschka kennen. Mit dem unterschrieb sie 1982 ihren ersten Arbeitsvertrag, der sie als Unterstufenlehrerin in die dortige POS Käthe Kollwitz führte. „Ein Hingucker, wenn sie über den Schulhof lief, aber eben auch eine der Lehrerinnen, die sogar bei Oberschülern Respekt genoss“, erinnert sich ein ehemaliger Bankdrücker.

Nachdem Simone Müller an den Ufern der Gärnitzer Vernässungsfläche neun Jahrgängen den Weg in die höheren Weihen der Oberstufe geebnet hatte, folgte die nächste Etappe im Nachbarort. Zwar als Schulleiterin der Grundschule Räpitz ins Rennen geschickt, war ihre Aufgabe mit der Abwicklung der Einrichtung und Betreuung der letzten zwei Klassen allerdings schon opulent beschrieben.

Der Aprilscherz

Trotzdem erinnert sie sich noch gern an diese Zeit und vor allem an jenen Aprilscherz, als sie unter dem Vorwand eines dringenden Telefonats aus dem Klassenzimmer gelockt wurde.

Freude und Wehmut im Einklang: Ein letztes Mal schloss Simone Müller am Mittwoch ihr Büro ab.

Freude und Wehmut im Einklang: Ein letztes Mal schloss Simone Müller am Mittwoch ihr Büro ab.

„Dass gar niemand am anderen Ende der Leitung war, hatte mich zwar gewundert, aber ich habe nicht weiter drüber nachgedacht“, erzählt sie. Doch als sie nach wenigen Minuten ins Klassenzimmer zurückkehrte und alle Kinder verschwunden waren, sei ihr ein gewaltiger Schreck in die Glieder gefahren.

Verbannung nach Askaban wegen Verletzung der Aufsichtspflicht oder, schlimmer noch, Beförderung zur Bildungsministerin – was einem in solchen Momenten eben an schrecklichen Konsequenzen so durch den Kopf schießt. Zum Glück hatten sich die Schüler nur versteckt. Ein Aprilscherz, an dem alle Lehrer und Kinder beteiligt sind, funktioniert eben nur an einer Schule, an der es lediglich noch drei Pädagogen und eine handvoll Pauker gibt.

Reise durch die Schullandschaft

Von Räpitz aus ging es für Simone Müller als stellvertretende Leiterin an die Grundschule Miltitz. Eine nützliche Erfahrung, denn weil es dort keine Sporthalle gab und die Kids jedesmal zur Turnstunde zu Fuß in eine Grünauer Halle laufen mussten, konnte Simone Müller schon mal an den Herausforderungen der nächsten Etappe schnuppern. Denn die führte sie an die 86. Grundschule in Grünau.

Inzwischen hatte auch dort schon das neue Jahrtausend begonnen und entsprechend breit gefächert war nicht nur das Bildungsangebot, sondern auch der Grad dessen Nutzung durch die Schüler. Dass sie sich auch hier behaupten konnte, habe sie auch einem „unglaublich motivierten Lehrer-Team zu verdanken, das die Herausforderungen mit neuen, innovativen Ideen angegangen ist“, erinnert sich die Pädagogin.

Stillleben mit Abschiedsstimmung im Schulleiterzimmer. Was ihre Schüler beigesteuert haben, hängt an der Wand und wird nie verwelken.

Stillleben mit Abschiedsstimmung im Schulleiterzimmer. Was ihre Schüler beigesteuert haben, hängt an der Wand und wird nie verwelken.

Nach weiteren Zwischenstationen als Referentin im Schulamt, Schulleiterin in Pegau und als Ausbilderin junger Lehrkräfte an der Uni kehrte Simone Müller 2013 in Markranstädter Gefilde zurück. Elf Jahre stand sie dann auf dem Schulschiff in der Neuen Straße als Kapitän auf der Brücke. Die emotionale Verabschiedung am Mittwoch wird sie in ihrem Ruhestand sicher noch lange begleiten. So wie die herzergreifende Anekdote, die ihr das Leben zwei Tage vor ihrem Abschied fest in die Erinnerungen schrieb.

Kindermund zum Abschied

Da saß Simone Müller während der Pause auf einer Bank im Schulhof, als sich ein Schüler neben sie setzte. „Frau Müller, ich bin traurig, dass du gehst“, hat er sie wissen lassen, worauf die Schulleiterin schweren Herzens zugab: „Ja, ich auch.“ Daraufhin habe der kleine Junge seine Hand tröstend auf ihre gelegt und melancholisch gesagt: „Aber wir hatten auch gute Zeiten.“

Ja, tschüss denn und alles, wirklich alles Gute!

Ja, tschüss denn Frau Kapitän. Und alles, wirklich alles Gute!

 

12 Kommentare

Zum Kommentar-Formular springen

  1. Eine Direktorin mit Biss und Herz… immer freundlich und doch streng und auf Ordnung bedacht, dabei trug sie immer stets tolle Kleider. Wir werden Frau Müller vermissen.

    Danke für wunderbare Zusammenfassung dieser Legende

    1. Ehrlich gesagt: Wir Jungs haben nicht so auf die Kleider geschaut.

    • Janine Schiedewitz auf 1. Februar 2024 bei 20:55
    • Antworten

    Sehr toll geschrieben. Vielen Dank.
    Frau Müller hatte immer eine freundliche und beherrschte Strenge so wie es eine Schulleiterin haben sollte, so war mein erster Eindruck vor sieben Jahren und so ist er auch bis heute geblieben. Auch ich als Mama habe immer Frau Müller ihre tollen Kleider bewundert.
    Alle Kinder haben sie gemocht. Sie wird fehlen und in herzlicher Erinnerung bei uns bleiben, selbst unsere große Tochter ist letzte Woche noch einmal persönlich in die Schule morgens gegangen, um sich von ihr direkt verabschieden zu können, auch wenn sie selbst schon lang nicht mehr auf der Grundschule war.
    Besonders toll fand ich immer, das sie ab und zu früh an der Tür stand und dann jedem Kind Guten Morgen gesagt hat – sie war kindsnah und doch fordernd.

    Ich wünsche ihr einen sportlichen und wohl verdienten Ruhestand.

    1. Das klingt ja fast wie ein Nachruf, dabei fängt doch das Leben erst richtig an, jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind.

  2. Herausforderungen im Schulsystem schafft man gemeinsam mit einem tollen Team und natürlich mit viel Hingabe und Ausdauer in diesem Beruf. Alles hat seine Zeit und Frau Müller kann nun ein Buch schreiben über das Erlebte und die vielen Episoden mit den „Muggels“, die sie haben durchhalten lassen. Prima, respektvoll formuliert und sehr eindrucksvoll.

    1. Wenns ein Lehrer heute in seinem Beruf bis zur Rente schafft, ist das wirklich bemerkenswert. Manche ordnen ihr Leben schon nach dem Studium neu, andere schlagen sich irgendwann auf die Seite der Schüler und nicht wenige lassen im Schützengraben zwischen erster Bankreihe und Schultafel sogar ihr selbstbestimmtes Leben. Ich hatt‘ einen Kameheraaden…

  3. Tja- die Besten gehen in M. schrittweise von dannen… Vor 1,5 Jahren die 1. Beigeordnete, jetzt die anerkannte Schulleiterin… Zeit das nun auch die nicht so „Besten“ gehen, gern auch vorfristig…

    1. Nach dem „Nichtmichel“ als politisch korrekte Bezeichnung für Schlammblütler anno 2019 könnte das Wort des Jahres 2023 mal wieder aus Markranstädt kommen. Vielen Dank für die „nicht so Besten“.

    • Streberin auf 1. Februar 2024 bei 9:12
    • Antworten

    Hach ist das eine schöne Geschichte. Da kommen einem ja fast selber die Tränen. Vor allem das Ende, wir haben heute beim Frühstück laut gelacht. Mein Mann hat Frau Müller bei ihrem beruflichen Einstieg übrigens noch live erlebt. Er war auch einer von den Hinterherguckern auf dem Schulhof. Zum Glück war er da schon in der Oberstufe und es hätte nichts gebracht, wenn er etwas ausgefressen hätte. Die Chancen, bei einer Unterstufenlehrerin nachsitzen zu dürfen, waren für einen Oberschüler gering.

    1. Er solls mal aufschreiben. Die Zeit ist reif für eine neue Feuerzangenbowle.

  4. Unglaublich würdevoll, Respekt!

    1. Wie man in den Wald hineinruft…

Schreibe einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.