Exklusiv: Unsichtbare Ausstellung kommt zu MN-Lesern

Sowas macht nur eine Corona-Pandemie möglich: Eine Ausstellung, die nie eröffnet wird, findet trotzdem statt, obwohl niemand sie sehen kann. Weil dieses weltweit einmalige Kuriosum auch noch in Markranstädt stattfindet, haben wir eine Spionin in die leeren Gewölbe des totenstillen Rathauses geschickt und sie das kulturelle Stillleben fotografieren lassen. Durch diese mutige, ja geradezu todesverachtende Tat ist es den Markranstädter Nachtschichten nun möglich, Ihnen die Ausstellung nach Hause zu liefern.

Natürlich beherrscht die Corona-Pandemie die Medien, aber derweil muss auch das Leben weitergehen. Wir versuchen seit zwei Tagen, irgendwie einen Spagat zu entwickeln zwischen der Ausnahmesituation und der Normalität, nach der wir uns alle sehnen.

Für Corona sind die Qualitätsmedien zuständig, für Unterhaltung und Ablenkung die Satiriker. Wenn es dazu erforderlich ist, das Terrain der Satire zu verlassen, dann haben wir uns spätestens gestern klar dafür entschieden. Nie war Abwechslung, noch dazu kulturelle, wertvoller als in Tagen wie diesen.

Was also ist geschehen? Die Gedenkstätte „Geschlossener Jugendwerkhof Torgau“ hat eine Wanderausstellung unter dem Titel „AUF BIEGEN UND BRECHEN“ entwickelt. Die Stadt Markranstädt hatte die Exhibition schon vor längerer Zeit gebucht. Sie sollte am 18. März, dem 30. Jahrestag der ersten freien Volkskammerwahlen in der DDR, eröffnet werden.

Vor wenigen Tagen wurde die Ausstellung im Rathaus auch pünktlich aufgebaut. Ironie der Geschichte: Weil es inzwischen weder Mauer noch Grenzanlagen gibt, gelangte der Corona-Virus problemlos aus der BRD nach Sachsen und sorgte 30 Jahre nach der Deutschen Einheit wieder für Versammlungsverbot. Damit fiel die Eröffnung der Schau ins Wasser.

Weil das Rathaus inzwischen komplett geschlossen werden musste, kann jetzt auch leider niemand die trotzdem im Foyer vor sich hin existierenden Exponate sehen. Quasi ein Hörbuch in Blindenschrift.

Aber im Zeitalter moderner Kommunikation ist es kein Problem, Ihnen diese Ausstellung nach Hause zu liefern. Wir haben extra Speicherplatz auf unserem Server freigeschaufelt, um per Bildgalerie einen virtuellen Rundgang zu ermöglichen.

Die Ausstellung kommt zu Ihnen

Viel Speicherplatz deshalb, um die Fotos größtmöglich zu präsentieren, damit Sie eventuell auch die Beschriftung der Exponate lesen können.

Leider haben wir nicht allzu viel von diesem Speicher zur Verfügung. Wir müssen die Galerie deshalb wahrscheinlich schon in drei bis vier Wochen wieder löschen. Aber das nur als Hintergrundinformation. Nun zur Ausstellung.

Sie informiert Schüler und Besucher über die Geschichte des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau. Anhand von Fotos, Dokumenten und Begleittexten wird der menschenunwürdige Alltag der Jugendlichen nachgezeichnet, die diese gefängnisähnliche Unterbringung durchlaufen mussten.

Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau (GJWH) war offiziell die einzige geschlossene Einrichtung zur Disziplinierung Jugendlicher in der DDR. Während seines Bestehens vom 1. Mai 1964 bis zum 11. November 1989 wurden im GJWH über 4.000 Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren zur „Anbahnung eines Umerziehungsprozesses“ eingewiesen.

Sie hatten oft nicht einmal Straftaten begangen, waren lediglich in anderen staatlichen Erziehungseinrichtungen negativ aufgefallen. Eiserne Disziplin und paramilitärischer Drill sollten eine Veränderung ihres Verhaltens bewirken, vor allem die Bereitschaft, sich den „sozialistischen Lebensnormen“ unterzuordnen.

Mit zeitgenössischen Dokumenten, Fotos und Begleittexten auf dreizehn im Rathaus-Foyer aufgestellten Tafeln zeichnet die mobile Ausstellung das System und den menschenunwürdigen Alltag der Jugendlichen in dieser gefängnisähnlichen Anstalt nach.

Die Ausstellung gastierte übrigens zuletzt an der Universität Wien und wurde bereits mit zahlreichen internationalen Preisen geehrt. So unter anderem mit dem „Golden Star Award of Active European Citizenship“ der Europäischen Union in der Kategorie „Aktive europäische Erinnerung“.


Hinweis zum Umgang mit der Bildergalerie: Die Bilder der Exponate wechseln im Rhythmus von rund 5 Sekunden (von rechts werden immer drei neue Fotos nachgeschoben). Wenn Sie den Mauszeiger auf die Galerie fahren, bleibt die SlideShow stehen. Sie können dann auch an der erscheinenden Fußleiste (Punkte unten) oder den Navigationspfeilen (links und rechts für vor und zurück) einen einzelnen „Dreierpack“ aufrufen.

Wenn Sie ein Bild vergrößern möchten, klicken Sie mit der rechten Maustaste darauf, dann öffnet sich ein Menü und Sie können auf den Punkt „Grafik anzeigen“ klicken. Daraufhin öffnet sich das Bild in einem neuen Fenster. Wenn Sie mit dem Mauszeiger darauf fahren, zeigt sich eine Lupe. Per Klick vergrößern Sie das Bild damit auf seine maximale Größe und können dann auch den Begleittext zum Exponat lesen.

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3 Kommentare

    • eine Leserin auf 18. März 2020 bei 10:37
    • Antworten

    Zunächst möchte ich mich meinen beiden Vorrednern anschließen. Vielen Dank für dieses Stück unnormale Normalität.
    Zur Ausstellung muss ich allerdings mal etwas loswerden. Da ich, wie meine Klassenkameraden und auch andere Markranstädter, einige (und vor allem EINEN) Torgauer Insassen persönlich kannte, möchte ich der Aussage widersprechen, dass die Insassen dort unschuldig bzw. harmlos oder einfach nur unangepaßt waren. Es mag Unschuldige gegeben haben, aber es waren definitiv auch Verbrecher dabei.
    Was allerdings die Art ihrer „Erziehung“ in Torgau angeht, war sie sicher nicht nur hart und brutal, sondern auch völlig wirkungslos. Wenn die (einige Markranstädter werden wissen, wen ich meine) wieder rauskamen, haben die da weitergemacht, wo sie zuvor aufgehört haben. Die haben nicht umsonst auch nach der Wende in den JVA’s der Bundesrepublik Karriere gemacht.

  1. Ich gebe zu, dass ich dieser Ausstellung normalerweise wahrscheinlich keine Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Aber es ist wirklich so, wie Sie hier schreiben, man sehnt sich in diesen Tagen geradezu nach normalen, alltäglichen Informationen. Von daher finde ich Ihre Idee, die Ausstellung praktisch „nach Hause“ zu bringen, einfach großartig. Ich kann nicht einschätzen, wieviel Mühe und Aufwand dahinter steckt, aber Sie haben m.E. beispielhaft gezeigt, wie man moderne Medien und technische Möglichkeiten nutzen kann, um in einer Zeit wie dieser auch die Kultur weiterleben zu lassen. Man kann nur hoffen, dass das auch in anderen Bereichen Schule macht.
    Das war eine Pionierleistung – vielan Dank dafür!

  2. Vielen Dank für die virtuelle Ausstellung, tolle Idee.

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