Ihr seid das Volk!

Am Anfang hat’s ja noch irgendwie Spaß gemacht. Also so die ersten fünf bis sechs Folgen. Da gab es auch immer mal neue, bislang unveröffentlichte oder seltene Filmsequenzen. Aber jetzt geht’s einem einfach nur noch auf den Sack. Die 30. Folge des senderübergreifenden Mauerstadels mit der 3425836. Wiederholung des „…sofort…unverzüglich!“ hat am Wochenende offenbart, was die Serie wirklich ist: Sandmännchen für Große. Da kann auch der MN-Schriftführer nicht mehr inne halten. Zeit für ein persönliches Wort.

Die Bilder sind immer die gleichen. Ostdeutsche Folkloregruppen, die sonst das ganze Jahr über keinen Fuß auf die wiedervereinigten Bühnen kriegen, dürfen rund um das Brandenburger Tor noch einmal ihr Repertoire aus einer „Rund“-Sendung der 80-er Jahre aufführen. Inzwischen sogar für Euro.

Dazu gibt es Thüringer Roster am Stand eines Ex-Dissidenten, der die Chancen der plötzlich über uns hereingebrochenen Freiheit genutzt hat und das gegrillte Kulturgut seither als Ich-AG vertickt. Eine ostdeutsche Erfolgsgeschichte.

Wie Donald Duck den Fall
der Berliner Mauer erlebte

Es duftet nach Schul-Soljanka aus der POS und irgendwo dudelt aus einem Stern-Recorder das „Auferstanden aus Ruinen“, während die Mauern des Brandenburger Tores unter dem Dauerbeschuss einer Lasershow zu bersten drohen. Es ist angerichtet. Das alljährliche Disneyland erwartet seine Schäfchen zu einem Besuch der blühenden Landschaften.

Inmitten dieses authentischen Ambientes sitzen Wessis in der VIP-Lounge und erzählen den Fernsehkameras nicht nur, wie sie den historischen Tag des Mauerfalls erlebten, sondern auch ihre Erfahrungen davon, was wir Ossis so alles in unserem grauen Alltag des untergegangenen Unrechtsstaates erdulden mussten.

Die jährliche Stallparade
des Staatszirkus

Hier und da wird, um die Glaubwürdigkeit der Aussagen zu unterstreichen, auch mal das bestätigende Nicken eines Quoten-Ossis ins Bild geschoben. Sehr gern ein typischer Durchschnitts-Zoni wie Gregor der Glatte, Wolfgang der Behaarte oder Lothar der Letzte. Ja, Geschichte ist das, worauf man sich nach 30 Jahren geeinigt hat.

Auch nach diesen drei Jahrzehnten sind unsere westdeutschen Landsleute noch immer die Sorgenkinder unserer Gesellschaft. Sie verharren in romantischer Westalgie, fallen durch permanentes Beklagen ihres Abgehängtseins infolge des Solidaritätszuschlags auf und fühlen sich nicht mitgenommen im Prozess der Wiedervereinigung.

Geradezu trotzig beharren sie auf ihren nationalistischen Kulturgütern wie Kaiserschmarrn, Spätzle oder Saumagen und verweigern sich konsequent allen neuen Einflüssen wie Jägerschnitzel, Kaliningrader Klopse oder Soljanka.

Die Integrationsverweigerer

Dabei haben wir es ihnen doch so leicht gemacht mit der Integration. Haben großzügig auf alles verzichtet, was ihnen, die da 40 Jahre jenseits des Eisernen Vorhangs im Ahnungslosen leben mussten, einen Kulturschock zufügen konnte. Haben alles dafür getan, dass es keine Brüche in deren Biografien gibt und uns dabei aus lauter Solidarität selbst eingeschränkt.

So haben wir beispielsweise unsere Polikliniken geschlossen und geduldig gewartet, bis sie selbst darauf kommen, dass sowas gut ist. Behutsam, sehr vorsichtig und sensibel, haben wir sie dann herangeführt an das Neue. Erst unauffällig als Ärztehaus getarnt, dann als Medizinisches Versorgungszentrum.

Es brauchte viel Fingerspitzengefühl, sie bis heute nicht wissen zu lassen, dass sie ihre Antidepressiva in Wahrheit in einer Poliklinik verschrieben bekommen, die Mitbürger aus den gebrauchten Bundesländern.

Westwasser in Betonköpfe

Auch haben wir sie glauben lassen, dass was dran ist an ihrem Urteil, wonach der Wasserkopf viel zu groß war in der DDR. Wir haben die oberen Führungsetagen geräumt und Platz gemacht für die Busch-Flüchtlinge aus dem Westen. Um bald selbst festzustellen, warum die sogar drüben niemand mehr haben wollte.

Die übergewechselten BWL-er aus dem westelbischen Raum haben bis heute nicht gemerkt, dass nicht einmal im bis zum Platzen überschwollenen DDR-Wasserkopf genügend Platz für ihre eigenen Verwaltungsspitzen war. Und ist.

Wir echten Deutschen haben wirklich alles versucht, um sie zu integrieren. Wir sehen sogar darüber hinweg, dass uns jener Kulturkreis, der 1989 die Republikaner ins Europaparlament gewählt hat, heute unser eigenes Wahlverhalten vorschreiben will.

Und ja, wir kennen keine Schadenfreude, wenn sich Stuttgarter – vom 30 Jahre alten Mut ihrer sächsischen Landsleute angestachelt – plötzlich auch mal als Mut-Bürger ausprobieren wollen und dabei schon an der Verhinderung eines lächerlichen Bahnhofes scheitern. Wohlgemerkt: Gegner war dabei nicht einmal die Stasi, sondern nur die CDU!

Nein, auch darin haben wir sie im Geiste unterstützt, moralisch sogar gefördert. Aber es hat nicht gereicht und jetzt müssen wir uns der Frage stellen, warum das so ist. Vielleicht haben wir ihnen nicht genug zugehört, den Wessis? War es doch zu wenig, die Kaufhalle in Supermarkt umzubenennen?

Ist das der Dank?

Rächt sich vielleicht unsere vorauseilende Fürsorge, in deren Folge sie nie die Erfahrung machen durften, sich durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder Umschulungsprogramme für die neuen Herausforderungen unserer globalisierten Welt zu qualifizieren?

Ja, diesen Vorwurf müssen wir uns gefallen lassen. Wir haben sie ausgegrenzt! Ausgeschlossen von den wichtigen Erfahrungen im Umgang mit Brüchen in der eigenen Biografie oder den Veränderungen in der Arbeitswelt. Wir haben sie allein gelassen beim Überqueren der Straße mit grünem Pfeil und Ampelmännchen.

Und deshalb müssen wir uns seit 30 Jahren am 9. November immer neu  anschauen, wie schön es hätte werden können, wenn wir Ossis nicht so arrogant gewesen wären und den Wessis alles übergestülpt hätten.

Der Mauerfall vor 30 Jahren – auch Kollektive aus Markranstädt hatten damals beim Rückbau der Demarkationslinie in freiwilligen Arbeitseinsätzen mitgeholfen – sollte Anlass sein, die Fehler der Vergangenheit zu berichtigen. So lasset uns Kerzen tragen und einander bei den Händen fassen, die Zähne zusammenbeißen und laut rufen: „Ihr seid das Volk!“ Irgendwann müssen sie es doch begreifen.

 

9 Kommentare

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    • Ute Weigand-Münzel auf 12. November 2019 bei 11:47
    • Antworten

    Ganz große Klasse. Super wahr und super geschrieben. Dafür trage ich noch nachträglich ne 1 ein.
    Bitte den Artikel weiterverbreiten!!

    • Der Seebenischer auf 11. November 2019 bei 21:05
    • Antworten

    Sehr feiner Beitrag!
    Alles gesagt!
    Lasst Euch diesen Beitrag schützen und legt ihn die kommenden 30 Jahre auf!
    Eure Umsetzung des Stoff’s hat das Zeug zum „Dinner for One“ der Einheit!

    • Wiki1302 auf 11. November 2019 bei 17:03
    • Antworten

    Super Beitrag
    Alles gesagt wie es gelaufen ist und noch läuft.
    Nichts desto trotz, diese Ex-FDJlerin, die ja nun nicht zu 100% Ossi ist, sondern im zarten Alter von 12 Jahren aus Hamburg umgesiedelt ist mit ihrem Vater, der dann in Templin seinen Dienst als Pfarrer tat und auch da immernoch „Der Rote Kassner“ genannt wurde, na jedenfalls diese Pfarrerstochter hat am Sonnabend (09.11.) festgelegt, öffentlich, das das Zusammenwachsen der Deutschen nach 30 Jahren „Einheit“ noch nicht vollzogen ist und noch mindestens 20 Jahre dauern wird. Also bis zum 50. Jahrestag der selbigen. Den Grund hat sie dafür auch gleich mitgeliefert: Die Ostdeutschen müssen noch lernen selbstständig Entscheidungen zu fällen….
    Die wurde sogar in den Qualitätsmedien verbreitet. Den Namen des Radiosenders will ich hier nicht nennen, zumal es sich um einen Mitteldeutschen Sender in Thüringen handelt.
    Und nun kommt ihr alle und könnt euch darüber eure eigene Meinung gestalten und wer will auch kund tun….

      • Bernd Hollwitz auf 14. November 2019 bei 14:19
      • Antworten

      Hallo Wiki1302, die Angela M. hat hier ihre Meinung gesagt, die sie wahrscheinlich von ihren smarten Beratern -so vorgeschrieben- erhalten hat. Das ist ja mittlerweile seit 2015 so .. und fällt mit dem Flüchtlingszustrom zusammen.
      Und die Berater sind eben so, sagen wir mal „Politprofies“, welche die Wende altersbedingt nicht oder nur in Windeln miterleben konnten.
      Wie auch immer, wir Ostdeutsche können jedoch natürlich „selbstständig“ Entscheidungen treffen, sogar an der Wahlurne —– uund müssen dabei gar nicht lange überlegen.
      Gruß Börnie

    • Biker auf 11. November 2019 bei 16:54
    • Antworten

    Ich kann und will mich hier meinen Vorrednern anschließen! Super Beitrag,den ich am liebsten so weit wie möglich teilen möchte!

    • Heike Kleine auf 11. November 2019 bei 10:20
    • Antworten

    Dieser Beitrag sollte nicht nur passwortgeschützt zu lesen sein!!!!
    Alles gesagt, was zum Thema zu sagen ist und das äußerst scharfsinnig.

    1. Na wenn das so ist und so lieb darum gebeten wird: Voilá: Passwortschutz weg und ein herzliche Willkommen für alle!

    • Volker Schack auf 11. November 2019 bei 8:25
    • Antworten

    Das geht einem richtig, alles so scharfsinnig so zu beschreiben was man gefühlt zu Allem zu sagen hat. Wir beten nicht, unsere Frauen können noch kochen, ist genial!

    • Samoht auf 10. November 2019 bei 20:20
    • Antworten

    Das ist ja so genial. Die ganz hohe Schule ist das! Sowas darf nicht nur hier in Markranstädt ausgestreut werden, wo es höchstwahrscheinlich vor dem Aufpicken schon verfault ist. Gregor der Glatte, Wolfgang der Behaarte. Unsere Quotenossis, die dafür sicher auch jede Menge Geld kriegen, wenn sie aus dem Leben des normalen DDR-Bürgers erzählen. Also wirklich: Note 1 dafür!!! Das Ding gehört in die Heute Show oder Extra 3.

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