In der Not gehen Gedanken bei Rot

Die Farbe Rot zieht noch! Zwar nicht mehr ganz so wie bei den internationalen Kampf- und Feiertragen der Werktätigen vor 1989, aber es sind am Montagabend trotzdem reichlich Markranstädter aller Klassen und Schichten in Richtung Stadthalle und Kirche unterwegs gewesen. Zeitweise hatte die Aktion sogar was von Kulturevent mit leichtem Anflug von dezenter Partystimmung. Eigentlich war schon das ein erster Ansatzpunkt, wie sich die Event-Branche wieder in den Wind bringen könnte.

Was die Veranstalter allerdings sträflich missachtet haben, waren Banner und Losungen. Manche der von den leuchtenden Gebäuden angelockten Passanten fanden es zwar schön, wussten aber gar nicht, was hier eigentlich gefeiert wurde.

Und so ließ man sich auf einem Stadtmöbel, auf Stufen oder anderen Sitzgelegenheiten nieder und genoss den lauen Sommerabend gemeinsam mit Freunden und Bekannten, die es ebenfalls dahin gezogen hatte. Irgendwann klärte man sich dann gegenseitig über den Grund der Rot-Aktion auf.

Die Beleuchtung der Kirche war zwar etwas blass, aber die Treppenstufen des Bürgerrathauses boten dafür das perfekte Ambiente eines römischen Amphitheaters. Und so hatte sich dort unter anderem der Markranstädter Klerus versammelt.

Kirchlein, Kirchlein, Ki-hi-rchlein rot…

Mitglieder des Kirchenvorstandes und des Fördervereins zur Erhaltung der Stadtkirche hatten ihre Frauen mitgebracht und diese wiederum zauberten inspirierende Getränke aus ihren Handtaschen. Bald schon gesellten sich dann auch Teile des weltlichen Bürgertums hinzu.

Treffen der Überlebenden

Auch auf dem Weg zwischen Kirche und Stadthalle traf man immer wieder Überlebende der Corona-Pandemie, die sich oft sogar wiedererkannten und den lauen Sommerabend nutzen, um zwischenzeitlich entstandene Kommunikationsdefizite abzubauen und dieses Stück neu gewonnene Freiheit zu genießen.

Urgesteine des MCC waren ebenso unterwegs wie führende Köpfe des Serviceteams der Piranhas oder bekannte Säulen anderer Vereine. Auch John Detzner nebst Begleitung zog es in Ermangelung spritzig-erfrischender Alternativen zu später Stunde auf die Piste in der Leipziger Straße. In dem von seinem Förderverein gepushten Stadtbad ist derzeit bekanntlich nur Beckenbodentraining möglich.

Vor der Stadthalle traf Detzner auf Rathaus-Kollegin Heike Helbig, die sich nebst Gatten aus Seebenisch auf den Weg gemacht hatte, um das seltene Flair der roten Sommernacht zu genießen.

Sie war allerdings gerade mit dem Veranstalter des Rotlicht-Events, Detlef Dölitzsch, ins Gespräch vertieft und hörte sich dessen Sorgen geduldig an.

Podium vergeigt

Spätestens bei diesem Szenenbild stellte sich dem außenstehenden Beobachter plötzlich die Frage, wie denn ihre einstigen potenziellen Widersacher dieses Geschenk kostenloser Werbung im Wahlkampf nutzen?

Optisch hat’s auf alle Fälle was hergegeben. Sogar aus vorbeifahrenden Autos heraus wurde die Stadthalle fotografiert.

Man kann’s nur ahnen. Einer hat traditionell schon vorab mit Worten seine Solidarität erklären lassen; eine Andere weiß vielleicht noch nicht, ob bereits genügend Unterschriften zusammengekommen sind, die ein solches abendliches Engagement schon lohnenswert machen und das abstimmgewaltige Wahlkampfteam des Dritten mag auf dem Lande vielleicht gar nichts von diesem möglichen Podium in seinem Wahlbezirk mitbekommen haben.

Hilfen alleine helfen nicht

Wie auch immer: Angesichts des Ausgangs der Nominierungsveranstaltung kann man Heike Helbig jedenfalls abnehmen, dass sie wirklich aus rein privatem Interesse da war und damit, ebenso persönlich, ihre Solidarität mit den Krisenopfern zum Ausdruck bringen wollte.

„Leider kann man allein durch seine Anwesenheit heute nicht wirklich helfen. Das ist eher moralische Unterstützung“, meint sie. „Aber auch durch finanzielle staatliche Hilfen kann man die Situation nur zeitweise mildern und nicht lösen. Die betroffenen Branchen brauchen endlich wieder Aufträge und damit Perspektiven.“

Helbig und Dölitzsch waren sich am Ende darüber einig, dass die Situation der Event-Veranstalter nur einen kleinen Bereich der Wirtschaftskrise abbildet.

Auch Gastronomen, Soloselbstständige, Messebau-Firmen, Reiseveranstalter, Künstler und viele andere Berufsgruppen stehen derzeit vor existenziellen Problemen.

Spontan ist’s manchmal doch am besten: Entschleunigte Straßenfest-Stimmung vor der roten Stadthalle.

Die konnten, was zu erwarten war, auch durch die gestrige Rotlicht-Aktion nicht gelöst werden. Aber vielleicht war es ein Anfang?

Ein Anstoß war es auf alle Fälle für die Frage, was die Stadt, ihre Vereine und eigentlich das gesamte Bürgertum hinsichtlich kommender Veranstaltungen erwarten dürfen und was zu bieten ausreichend ist.

Wie weniger auch mehr sein kann

In Zeiten wie diesen muss es wohl wirklich kein ausgelassen zelebriertes Promenadenfest sein, ein mehrtägiges Kinderfest oder eine sonstige Jubelveranstaltung mit steigenden Sektkorken und belagerten Bierständen.

Der gestrige Abend hat gezeigt, dass schon ein paar Lichter der Hoffnung reichen, unter deren Kegeln man sich spontan und kultiviert begegnen und in entschleunigter Atmosphäre Zeit miteinander verbringen kann.

Inspiration für neue Konzepte

Dieses „weniger ist mehr“ war die eigentliche Botschaft des Abends. Vielleicht nicht gerade zur Freude der Event-Branche, die bisher meist gerade von diesem „mehr“ profitiert hat. Aber genau das ist die Herausforderung für alle betroffenen Krisenopfer. Sie müssen neue Konzepte finden, um in der Zukunft bestehen zu können.

Und wenn die Beta-Version eines Lichterfestes ohne Ausschank flüssiger Stimmungsaufheller, zünftiger Rhythmen und gutbürgerlicher Häppchen bereits so gut angekommen ist, warum dies nicht als Ausgangspunkt für neue Ideen nutzen?

 

1 Kommentar

  1. Schöner Artikel.
    Man kann nur hoffen, das sich die „Party- und Eventszene“ nicht an Stuttgart zu neuen Ideen inspiriert fühlt, dann wirds eng ohne Polizeiposten hier.
    An Aufmerksamkeit hat Stuttgart die Nightoflight-Aktion allerdings übertroffen,
    leider.

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