Kleine Farm: Sympathischer Familienzuwachs auf Zeit

Der Verein Richtungswechsel e.V. beschäftigt auf seiner „Kleinen Farm“ seit einiger Zeit zwei neue Mitarbeiter. Sie stammen aus Venezuela, haben in den letzten Monaten in Sachen Engagement, Pünktlichkeit und Fleiß die Vorgaben deutscher Tugenden sogar übererfüllt und sprichwörtlich aufgeräumt. Nicht nur auf dem Gelände der Farm, sondern auch mit Vorurteilen.

Ines Bornträger lächelt zufrieden. Die Frau, die eigentlich Ines Ideenträger heißen müsste, hat wieder mal einen Volltreffer gelandet, der sowohl den Verein als auch die kleine Farm am Rande der Stadt erneut ein Stück voran gebracht hat.

Durch die Bekanntschaft mit einer inzwischen auch schon wieder ehemaligen Mitarbeiterin der Gemeinschaftsunterkunft (GU) im ebenfalls ehemaligen Hotel kam Ines Bornträger im vorigen Jahr auf einen Gedanken.

Was, wenn man den in Talkshows und Medien so oft proklamierten Papiertiger mit dem sperrigen Namen Integration einfach selbst zum Leben erweckt? Sozusagen handeln statt sein Gewissen mit politisch korrekten Ausdrücken und gendergerechter Laberei zu beruhigen?

Wenn der Vorgang zum Inhalt wird

Kurzerhand recherchierte der Verein unter Leitung von Ines Bornträger, Silke Martin und Ronny Heuse, ob es da Förderprogramme gibt. Und siehe da, sie wurden fündig.

Die Freude darüber währte allerdings nur kurz, denn wie sich bald herausstellen sollte, dauert so eine Beantragung fast so lange wie ein Asylverfahren, birgt ebenso viele Hürden und füllt, weil’s ja mit deutscher Gründlichkeit zelebriert wird, ganze Ordner.

So zog sich die Beantragung vom zeitigen Frühjahr bis zum Hochsommer hin, bevor aus den Ämtern, in deren kilometerlangen Fluren man auf den gebohnerten Böden die Erdkrümmung wahrnehmen kann, endlich die Zusage kam. Zwei Insassen des Hotels dürfen täglich in der Zeit von 8 bis 12 Uhr auf der kleinen Farm beschäftigt werden.

Beremy (r.) kennt das Leben auf einer Farm von zu Hause. Alpakas gibt es im Norden Südamerikas allerdings nicht.

Joel (23) und Beremy (34) aus Venezuela haben keine Sekunde überlegt und sich sofort gemeldet. Sie kamen im Sommer 2019 in Deutschland an und wurden im Herbst in die Markranstädter GU eingeliefert.

Für eine Handvoll Cent …

Anfangs sahen sie in der kleinen Farm wohl nur eine Möglichkeit, dem tristen Alltag in der gelben Asylvollzugsanstalt für ein paar Stunden zu entfliehen.

An der finanziellen Motivation jedenfalls kanns nicht gelegen haben. Sage und schreibe 80 Cent pro Stunde erhalten die beiden jungen Männer für ihren Einsatz auf dem Vereinsgelände. Die zehn Langzeitarbeitslosen, die dort Seite an Seite mit ihnen arbeiten, bekommen einen Euro.

Ein Zustand, den Bornträger und ihre Vorstandsmitglieder schon nach wenigen Tagen nicht mehr hinnehmen konnten. „Sie stehen jeden Morgen pünktlich auf der Matte, sind freundlich und handwerklich absolut fit. Aber vor allem in Sachen Fleiß sind sie für viele hier echte Vorbilder“, konstatiert die Vereinschefin.

Vorstand Ronny Heuse machts kurz: „Wir haben die 20 Cent pro Stunde dann aus eigener Tasche selber draufgelegt. Kann ja nicht angehen, so eine Ungleichbehandlung.“

Ausbruch des Baseball-Fiebers

Joel und Beremy sind eine Bereicherung für das Team auf der Farm, das sehen dort alle so. Auch die Besucher. So kam es anlässlich des coronabedingt abgespeckten Farmfestes im September zu einer recht originellen Situation.

Um der Veranstaltung mehr Pep zu geben, sollten beide den Kids mal zeigen, womit sich Kinder in Venezuela so die Zeit vertreiben. „Da stellte sich erst mal heraus, dass die da auch nur Verstecke oder Hasche spielen“, lacht Ines Bornträger.

Bauen aus den Resten des alten Bauwagens eine Innen-Vertäfelung für den neuen Ziegenstall: Beremy (l.) und Joel (r.).

Aber dann fand sich doch ein Spiel, das die Markranstädter Kinder nicht kannten. Joel und Beremy machten die Kids mit ihrem Nationalsport Baseball vertraut. Ronny Heuse strahlt noch heute, wenn er daran denkt: „Das hat eingeschlagen! Ab dem Moment war hier das Baseball-Fieber ausgebrochen.“

Bei ihrer Arbeit bringen die beiden Flüchtlinge ebenfalls eigene Ideen ein und setzen sie auch um. So musste für den Winter ein neuer Ziegenstall her, weil der alte, umfunktionierte Bauwagen völlig kaputt war. Eigentlich sollte das Gefährt komplett entsorgt werden, aber Beremy und Joel haben es behutsam demontiert und wiederverwendbare Teile geborgen.

Aus denen haben sie dann für den neuen Stall eine Täfelung gefertigt und eingebaut. Die Behausung sieht jetzt innen nicht nur viel schöner aus, was den Ziegen im Zweifelsfall gar nicht auffallen wird, sondern ist für den kommenden Winter auch top-isoliert, was den Ziegen wiederum sehr wohl auffallen wird.

Verständigen kann man sich mit Joel und Beremy relativ problemlos. Nach nur einem Jahr in Deutschland gibt es zwar noch erhebliche Sprachdefizite, aber die werden von Tag zu Tag kleiner. „Einerseits durch die Kommunikation bei der Arbeit, andererseits nutzen wir Pausen, um intensiv Vokabeln zu lernen, damit sie in den Deutschkursen schneller vorankommen“, sagt Ines Bornträger.

Der Sprachabschluss B1 ist wichtig, bevor die beiden Venezuelaner weiter in die Zukunft blicken können. Ohne ihn sind alle Türen für ein Weiterkommen verschlossen. Joel will eine Ausbildung zum Grafikdesigner machen, Beremy möchte Koch werden.

Ohne Deutsch nix werden

Er hatte in Venezuela bereits ein Jura-Studium begonnen, in einer Apotheke gearbeitet und seine Eltern auf deren Farm unterstützt. Die tägliche Gewalt, Kriminalität und Korruption, in deren Folge sie immer wieder Repressalien der Mafia und Polizei ausgesetzt waren, hätten sich so zugespitzt, dass ihnen keine andere Möglichkeit als die Flucht blieb.

Bei der Arbeit im Team werden ganz nebenbei die Sprachkenntnisse gefestigt.

Sobald es die Verhältnisse in ihrem Heimatland zulassen, möchten sie auch wieder zurück, sagen beide unisono. Bis dahin aber wollen sie jede Chance nutzen, die ihre Ausgangsposition verbessert.

Zukunftspläne für die Heimat

Eine Ausbildung stehe dabei ganz oben, aber auch für die Tätigkeit in der kleinen Farm seien sie dankbar. Sie lernen hier viel und fühlen sich wohl, sagen beide und man sieht es ihnen auch an.

Heimweh haben beide, vor allem nach ihren Familien, geben sie zu. Joel blickt zu Ines Bornträger und sagt: „Jetzt ist die Farm hier unsere Familie.“ Beremy nickt zustimmend.

Handwerklich top-fit: und mit Spaß bei der Sache: Beremy (l.), Stev Tost (m.) und Joel (r.) legen letzte Hand beim Bau der Tür für den Ziegenstall an.

Allerdings sind die Tage dieser jungen Familie bald gezählt. „Die Fördermaßnahme läuft am 30. November nach nur fünf Monaten aus“, weiß Ines Bornträger. „Sie wird weder verlängert, noch gibt es bislang eine ähnlich gelagerte Fördermöglichkeit.“

Da würden sich natürlich Fragen nach dem Sinn solcher Maßnahmen stellen, wenn diese gerade dann enden, wenn sich erste zaghafte Erfolge ankündigen.

 

2 Kommentare

  1. DAS sind die Infos/Nachrichten die die Menschheit in Deutschland benötigt. Jaaa- danach lechzt der Bürger! „Qualitätsmedien“ kommen da nicht drauf. Von daher gibt’s nur Wetter; von Einem der von hinter’m Atlantik ist; von Milliarden Euro Politiker und Solchen die dann ohne Verantwortung für Unterlassungen oder Fehlentscheidungen wieder verschwinden…(Es soll Steckbriefe geben die sich sogar noch nach einer Woche nach dem Verschwinden an den Laternen aufgehangen haben). Die Vielfalt in der Qualitätspresse wird dann noch ergänzt mit Haudraufgewalt, CR und Kontrollmanie, und von bedauernswerten Elite-Profis die dann im Fernsehen und Qualitätspresse aufgehen. Fazit: Öffentlich-Negatives also. Und nun der Skandal: Im beschaulichen Markranstädt deckt MN Positives auf und schreibt das auch noch! Wie meinen Herr Kennedy: “ Ich bin ein… (nun kommt ne Abwandlung:)… Markranstädter“. Die im Artikel genannten Akteure sind ECHTE Ma(r)kran’ser! Klasse und Danke!

    • Heidi auf 16. Oktober 2020 bei 18:11
    • Antworten

    Sehr schön und echt um Mitfreuen, dass die guten Beispiele öffentlich gemacht werden!
    Als unser Ministerpräsident zum 10. MGH-Jubiläum mit seinem Gefolge zu Besuch da war, gab es von Frau Landgraf das Angebot, mit Sorgen und Problemen zur Integration ihre Sprechstunde zu nutzen. Ob das Angebot noch gilt, wäre auszuprobieren.
    Ob der Kuchen gelingt, dessen Backrezept weiter oben geschrieben wurde, stellen meist nur die weiter unten fest, die ihn backen. Korrigieren können diese aber am Rezept nichts. Dass sie ihn mit eigenen Zutaten verbessern, ist großartig, sollte aber nicht zum Dauernormalfall werden. Es muss das Backrezept verbessert werden! Kontaktieren Sie die „Rezeptschreiber“!

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