Oh, oh, oh, oooh – das wird teuer!

Das Handwerk sucht händeringend Nachwuchskräfte. Am Donnerstag sogar in der Markranstädter Oberschule. Das lässt sich gut an und könnte ein richtiger Erfolg werden … wenn man aus der Vergangenheit die richtigen Lehren zieht. Unser Volkskorrespondent Julius Röhrich hat das mal versucht und sich dazu erst mal seiner eigenen Lehrzeit erinnert. Handwerk ist gar nicht so schwer, stellt er dabei fest. Wer die „vier Oh“ beherrscht, ist reif für den Meisterbrief.

Oktober 1980. Erste Stunde in der praktischen Ausbildung als Rundfunk- und Fernsehmechaniker. Noch bevor wir das verstaubte Röhrenradio auseinandernehmen durften, wies uns der Lehrmeister ein.

„Wenn ihr zum Kunden kommt, zieht ihr den Netzstecker, öffnet die Rückwand und sagt als allererstes die vier Handwerker-Oh. Klar? Das ist wichtig! Also alle zusammen: ‚oh, oh, oh, oooh‘.“ Das letzte Oh sollte langgezogen werden, gefolgt von einem unmissverständlichen Vorwurf wie: „Wer war denn hier zuletzt dran?“

Dann begründete der Lehrmeister den Sinn dieser Ouvertüre: „Bei jedem Oh könnt ihr sehen, wie der Kunde schrumpft. Ihm wird klar, dass das teuer wird. Er rechnet bei jedem Oh mit einer Stelle mehr vor dem Komma. Am Ende wird er froh sein, dass es bei drei Stellen blieb, ihr den Fernseher oder das Radio wieder hingekriegt habt (obwohl nur eine Sicherung defekt war) und bekommt dafür sogar noch Trinkgeld.“ Nimm und dir wird gegeben werden. Mit diesem Psalm haben wir damals Menschen glücklich gemacht.

Die vier Handwerker-Oh gab es in allen Branchen. Lediglich der anschließende Vorwurf variierte von Beruf zu Beruf. Beim Sanitärer hieß es beispielsweise: „Oh, oh, oh, oooh – wer hat denn das gemacht? Das ist ja totaler Pfusch!“ oder auch „Das hat doch ihr Mann gemacht, oder? Ein Wunder, dass das überhaupt funktioniert hat. Das muss komplett raus!“ Der KfZ-Mechaniker hingegen kam ohne Vorworf aus. Er arbeitete mit Feststellungen. „Oh, oh, oh, oooh – Radlager. Den könnse erst mal stehenlassen. Ich hab zwar noch eins da, aber das muss ich bei dem da drüben einbauen.“ Schaut noch mal auf das defekte Lager und ergänzt: „Wie gesagt, da fehlt das Schmiermittel.“ Wer das nicht begriffen hat, war in den folgenden Wochen zu Fuß unterwegs.

Der Schock in der Dederonschürze

Im Laufe der Jahre hatte ich meine persönlichen Erfahrungen in die Kundenbegrüßung einfließen lassen. Die vier Oh fand ich nicht nur einfallslos und abgedroschen, sondern auch wesentlich weniger wirksam als ein kreatives „Ach [Pause] du Scheiße! Was ist denn HIER passiert?“ Manchmal quittierte der Eigentümer des defekten Gerätes dieses vernichtende Urteil vor lauter Schreck mit einer Flatulenz. Die geschockte Hausherrin griff dann schon von ganz allein in die Dederonschürze und winkte motivierend mit dem Portemonnaie. Aber erst mal gab’s Kaffee und ein zünftiges Frühstück.

Oh, oh, oh, oooh – wer hat denn das verbrochen?

Eigentlich hing ja nur der Antennenstecker locker in der Buchse. Trotzdem wurde die komplette Diagnose durchgezogen. Man ist ja nicht umsonst Facharbeiter. Bissl am Tuner rumdrehen, mehrmals ein- und ausschalten, besorgtes Gesicht machen und so. Als sich dennoch kein weiteres Schadbild zeigte, musste ich meinen letzten Joker ziehen. „Soll ich ihnen den Westen auch einstellen oder geht’s so?“

Bonus für den Feindsender

Damit hatte ich den in der Dederonschürze steckenden Köder am Haken! Sie musste sich jetzt offenbaren und zugeben, dass sie Feindsender hört. Das brachte in der Regel einen Zehner extra. Schwarz versteht sich, denn das war ja der Sinn. Wenn ich den annehme, mache ich mich auch schuldig und kann sie nirgendwo verpfeifen. Wir sitzen im selben Boot.

Die vier Handwerker-Oh waren alles, was man brauchte. Das Gerät wurde als „normalerweise nicht reparaturfähig“ eingestuft und mit der Bemerkung „Mal sehen, ob wir da noch was machen können“ in die Werkstatt mitgenommen.

Im Wissen, dass das ein halbes Jahr dauern kann, gab es dann meist gleich eine motivierende Anzahlung. Gleiche Farbe wie der Feindsender-Bonus, versteht sich. Ein verständnisvolles Nicken, vielleicht noch ein beruhigendes „Okay, ich red gleich mal mit dem Chef“, und schon breitete sich ein glückliches Lächeln über dem Antlitz des Kunden aus.

In der Werkstatt saßen dagegen die Ärmsten der Armen. Weil sie handwerklich richtig was drauf hatten, mussten sie auch echt reparieren. Aber ohne Kundenkontakt gab’s halt nur den DDR-Reallohn. Also reichten wir den Löt-Sklaven was vom Trinkgeld rüber, damit die atmende Dederonschürze ihr Gerät schon in zwei Monaten zurückbekommt und hatten damit bereits den zweiten Menschen glücklich gemacht. Wenn das mehrmals am Tag und Jahr für Jahr passiert, kommt man sich irgendwann vor wie Fortuna, die mit dem Füllhorn durch die Republik reist. Ich war der Glücksbote der DDR!

Hier ist der Deutschlandfunk

Okay, es konnte auch mal eng werden. Einmal war am Radio die Schnur am Frequenzwähler gerissen. Senderwahl unmöglich. Und weil sowas naturgemäß nur bei der Suche nach einem Sender passiert, rauschte das Uralt-Teil nur noch irgendwo zwischen Radio DDR und RIAS. Für kein Trinkgeld der Welt war ein Löt-Sklave zu bewegen, sich da ran zu wagen. Selbst wenn man zufällig rauskriegte, in welcher Reihenfolge und Richtung der Faden über welche Rolle laufen muss, bekommt man dessen Spannung nie wieder so hin, dass sich der Zeiger auf der Skala auch nur einen Millimeter bewegt. Meist riss das Band gleich danach an einer anderen Stelle.

Hier nun kamen die beiden einzigen Merkmale zum Tragen, die einen guten Handwerker noch heute auszeichnen: Kreativität und Improvisationskunst! Zunächst gab es ein resignierendes „Jo, das ist definitiv hin!“ Da die Oma den Empfänger seinerzeit auf ihrer Flucht aus den Ostgebieten mitgebracht hatte, war es verständlich, dass sie daran hing.

Oh, oh, oh, oooh -hier müssen wir das ganze Modul wechseln!

Soeben war ihr Herz in den angerauten Langbein-Plautzer gerutscht und sie selbst damit im Stadium grundsätzlicher Kompromissbereitschaft angekommen. Das ist der Moment, in dem der Handwerker wieder Glück verteilt. „Vielleicht …“, sagt er vorsichtig (allerdings bereits im Wissen, wie einfach die Lösung ist), „… kriege ich es hin, dass wenigstens ein Sender wieder geht. Welchen hören sie denn am liebsten?“ Demütig nimmt sie das Glücksgeschenk vom RFT-Timurhelfer an und strahlt.

Zwischen Radio DDR und RIAS

Die Antwort war meistens die gleiche: Deutschlandfunk oder RIAS, je nach Alter des Hörers. Jetzt durfte man sich nur nicht von der Vorfreude auf den Feindsender-Bonus verleiten lassen und den Schraubenzieher gar zu schnell am Frequenzwähler drehen. Kompliziert muss es aussehen und vielleicht gelingt es gar, die eine oder andere Schweißperle aus der Stirn zu drücken.

Man konnte den Preis auch noch in die Höhe treiben, indem man bei der Meldung „… rrrchchchtrrch…und nun noch die Wasserstände und Tauchtiefen für die Saale …“ kurz inne hielt. Den flehenden Hinweis der alten Dame „Nee, den bitte nicht. Das ist der Falsche“, konnte man lukrativ kontern, indem man weiter angestrengt dem Schraubenzieher hinterher ins Innere starrte und wie nebenbei bemerkte: „Schon klar, junge Frau. Ist gar nicht so einfach. Und so richtig offiziell eigentlich auch nicht. Aber lassense mal, ich krieg das schon…“

Kurzer Blick auf die Uhr – gleich Mittag. Jetzt kann das Finale kommen und der Lautsprecher meldet pünktlich: „12 Uhr, Deutschlandfunk, die Nachrichten.“ Mit welch einfachen Mitteln man Menschen glücklich machen kann, weiß nur der versierte Handwerker. Die Dame hatte ihren Sender und ich meinen Salär. Ein abschließendes „Aber nicht wieder dran rumdrehen, ja?“ konnte ich mir trotzdem nicht verkneifen.

Später, im Fernsehzeitalter der Colormat und Colortron, wurde es noch einfacher. Da wurde nicht mehr repariert, sondern nur noch die Leiterplatten getauscht. Das hat sich bis heute branchenübergreifend erhalten. Egal ob Fernsehfritze, Sanitärer oder Autoschrauber – nach den vier Oh kommt heute die Ansage: „Das sieht zwar nach wenig aus, aber das gibt’s nicht einzeln. Hier müssen wir das ganze Modul tauschen!“

Oh, oh, oh oooh – den könnse gleich stehen lassen, hier fehlt Schmiermittel.

Eine Beule in der Stoßstange? Früher waren da Gummipuffer dran, damit sowas gar nicht erst passieren kann. Heute sind die mit Spoiler und Frontgrill verbunden und sinnstiftend auch noch in der Wagenfarbe lackiert. Wenn da wegen eines Kratzers „das ganze Modul“ getauscht wird, muss zuvor die Vorderachse ausgebaut und das Differenzial gedreht werden, damit man an die Schraube der Halterung gelangt. Der Kostenfaktor liegt irgendwo kurz vor dem wirtschaftlichen Totalschaden.

Ach ja, warum erzähle ich das alles? Das Handwerk sucht heute händeringend junge Nachwuchskräfte. In ihrer Verzweiflung beschreiten die Betriebe mitunter völlig ungewohnte Wege.

Vier „Oh“ für den Nachwuchs

Am Donnerstag ist in der Oberschule beispielsweise „Schnuppertag“. Siebzehn ansässige Betriebe stellen in der Zeit von 8 bis 14 Uhr über 20 Berufe vor und wollen die 80 Mädchen und Jungen davon überzeugen, dass Handwerk goldenen Boden hat.

Eine tolle Sache, wenn man sie richtig angeht. Also nichts von deutschen Tugenden wie Pünktlichkeit oder Ehrgeiz erzählen und so Sachen wie handwerkliche Fertigkeiten, Geschick und dass Lehrjahre keine Herrenjahre sind oder dass noch kein Meister vom Himmel gefallen ist. Das demotiviert die jungen Menschen nur und treibt sie in die Fänge von IT-Unternehmen oder öffentlichen Verwaltungen.

Wie viel einfacher und erfolgversprechender ist hingegen die Situation, wenn der Meister den jungen Mann beiseite nimmt, ihm freundlich seinen Arm um die Schulter legt und sagt: „Komm zu uns! Ich lerne dir die vier Oh und du wirst reich.“ Is ja so, oder? Ehrlich währt am längsten.

Module tauschen for future

Nee, mal ehrlich jetzt: Es ist eine gute Initiative die hoffentlich auch von Erfolg gekrönt ist. Nur wenn man den Kids das Handwerk näher bringt, können sie feststellen, ob das was für sie ist. Und goldenen Boden hat’s allemal. Es ist inzwischen schon wieder wie früher. Wegen Personalmangels kommen die Betriebe gar nicht mehr hinterher und die Kunden zahlen schon wieder dunkel gefärbte Boni, damit wenigstens der Geselle nach Feierabend mal reinschaut, um den defekten Abfluss zu begutachten. Das kann ja nicht so weitergehen. Am Ende gehe sogar ich freiwillig wieder Radios reparieren, weil es sich lohnt?

Obwohl. Gut – reparieren gehen ist da wahrscheinlich nicht der richtige Ausdruck. Module tauschen, das trifft’s wohl eher. Oh, oh, oh, oooh!

 

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