Umsonst gesessen

Coronieren Sie noch oder leben Sie schon? Ab morgen geht’s wieder rund in Deutschland. Das auslösende Virus ist zwar noch da, aber versuchen kann man’s ja mal. Was inzwischen gehauen und gestochen ist, kann sowieso kaum noch jemand überblicken. Wichtig ist einzig, dass es jetzt endlich wieder zurück zur Normalität geht. Und genau bei diesem Gedanken platzt dem MN-Schriftführer nicht nur der Kragen, sondern auch die Patrone im Füller.

Das Urteil kam überraschend und ohne vorherige Verhandlung. Zwei Monate ohne Bewährung, hieß es am 13. März für mich. Aber zwei Monate was? Kinderbergwerk Kairo, Straflager Großlehna oder gar Verbannung nach Sachsen-Anhalt?

Es kam schlimmer. Weil es Berufsverbot im Zeitalter der Demokratur nicht gibt, wurde dafür der Begriff Shutdown entworfen. Inzwischen hat der Etikettenhandel einen Lockdown daraus gemacht. Ähnlich verhält es sich mit den Maßnahmen der strafverschärfenden Sonderbehandlung.

Weil Einzelhaft oder Bunker-Arrest selbst 80 Jahre danach noch zu anrüchig klingen, wurde auch hier im Namen des Volkes ein neuer Duktus eingeführt.

Wieviel fröhlicher, ja geradezu beschwingt, lassen sich die Delinquenten doch in ihre Wasserzelle abführen, wenn man sie glauben lässt, dass es jetzt zum Social Distancing geht? Und weil das millionenfach geklappt hat, spricht man neuerdings auch von Herdenimmunität.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Die Reihe dieser Umdeutungen ließe sich beliebig fortsetzen. Bei Triage beispielsweise (früher: Selektion), werden Patienten vorsortiert, um begrenzte Kapazitäten auf jene mit besseren Überlebenschancen zu konzentrieren. Allerdings sind nicht nur die medizinischen Kapazitäten beschränkt, sondern auch die der Lager.

Darum wurden die Möglichkeiten der Internierung outgesourct. Home-Office nennt man die dezentrale Form des Erziehungsvollzugs, in der die Verurteilten unter teilweise unmenschlichsten Bedingungen wertvolle Lebenszeit absitzen müssen.

Und draußen läuft der Blitzkrieg

So lange, bis die DAX-Wirtschaft draußen die wichtigen Lebensräume, diesmal nicht nur im Osten, besetzt und neu aufgeteilt hat. Final solutioning nennt man diese Infusion, mit der literweise Endlösung in unsere Venen tropft. Aber das ist alles Geschichte. Jetzt geht’s von vorne los. Wir fangen neu an!

Und zwar genau dort, wo wir aufgehört haben. Das ist der große Unterschied zu allen anderen bisherigen Krisen in der Menschheitsgeschichte. Bis zu jenen denkwürdigen Tagen im Frühjahr 2020 war es stets so, dass aus solchen Phasen Neues hervorging. Weil man erkannt hat, dass es so nicht weitergehen kann.

So markierte beispielsweise die Pest-Epidemie von 1350 das Ende der Leibeigenschaft in Europa. Weil sich niemand mehr raus auf die Felder wagte, mussten die Lehensherren plötzlich mit Geld locken, um das faule Pack zum Arbeiten zu bewegen.

Anderes Beispiel: Die Weltwirtschaftskrise in den 1920-er Jahren brachte gleich reihenweise deutsche Nobelpreisträger hervor, neue Innovationen kamen auf die Märkte und schon 1930 war Deutschland auf dem Weg zum Exportweltmeister.

Warum? Weil es findige Köpfe gab, die aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, Chancen erkannt und neue Visionen entwickelt haben. Und weil die führenden Köpfe der Wirtschaft klug genug waren, auf diese Visionäre zu hören. Das war auch nach dem 2. Weltkrieg so. Stichwort: Wirtschaftswunder.

All das ist heute anders. Es gibt noch findige Köpfe, aber denen fehlt einerseits die finanzielle Kompetenz, um ihre Ideen glaubhaft machen zu können und andererseits werden die damit verbundenen Veränderungen von den führenden Köpfen gefürchtet. Wofür es früher den Nobelpreis gab, wird man heute als Verschwörungstheoretiker abgestraft.

Das sind die Visionen, die den führenden Köpfen des 21. Jahrhunderts bei der Krisenbewältigung einfallen.

Natürlich …

… hat der deutsche Autobauer erkannt, dass er nach dem Restart nicht aus dem Knick kommen kann, wenn sich sein moldawischer Zulieferer noch im Shutdown befindet. Oeconomical distancing sozusagen. Aber gerade weil es vorher so gut geklappt hat, muss er doch nicht gleich über neue Lösungen nachdenken, wenn die Wartezeit auf die Normalität durch Steuergelder seiner Angestellten vergoldet wird.

Natürlich …

… könnte der um sein Überleben kämpfende Fußballverein darüber nachdenken, die Gehälter seiner Spieler anzupassen. Einige von denen bräuchten sich ihren Mercedes nicht mal bei einer Gehaltskürzung um 90 Prozent vom Munde absparen. Aber wozu, wenn es doch funktioniert, dass die Zuschauer aus lauter Solidarität mit den von Armut bedrohten Profis Tickets für Spiele kaufen, die gar nicht stattfinden? Am Ende gibt’s sogar Fernsehgelder für Spiele vor leeren Rängen.

Natürlich …

… hätten unsere Altvorderen in solchen Situationen Strategien entwickelt, wie man sich von globalen Entwicklungen unabhängiger machen und wenigstens bei der Grundversorgung der eigenen Bevölkerung auf regionale Lieferketten bauen kann. Man bräuchte heute nicht mal ein Gewächshaus neu zu erfinden. Aber wozu, wenn man das deutsche Schweinefleisch statt über Spanien und England auch über Frankreich und Holland reimportieren kann?

Und chinesische Kartoffeln kann man schließlich auch via Tunesien oder Marokko ordern. Sicherheitshalber gleich noch ein paar Schiffsladungen Reis dazu, als Staatsreserve.

Dass dann in Afrika mehr Leute an Hunger sterben als hierzulande an Covid 19 ist halb so wild, weil sich Hungerkatastrophen planen lassen, eine Pandemie hingegen unkontrollierbar ist und auch führende Köpfe hinwegraffen könnte.

Umsonst gesessen?

Ich weiß nicht, ob meine Strafe von zwei Monaten ohne Bewährung gerecht war. Aber ich bin mir sicher, dass sie ihre erzieherische Wirkung verfehlt hat. Gegenüber dem Zeitpunkt meines Haftantritts hat sich nichts geändert. Das Virus ist noch da, es sterben noch immer Menschen und es gibt auch weder einen Impfstoff noch andere wirksame Therapieformen.

Und trotzdem darf jetzt langsam wieder alles „normal“ werden, womit gemeint ist, alles wie vorher. Ich bin kein Verschwörungstheoretiker, dennoch fühle ich irgendwie die Erkenntnis: Umsonst gesessen!

Aber das ist zu klein gedacht. Darum zähle ich ja auch zu den Verlierern dieser Krise, weil ich das Große und Ganze nicht im Blick habe, ich Kleinkarierter, ich. Mir fehlen die Visionen.

Legal weggenommen

Mit Marktanteilen verhält es sich wie mit Geld. Es ist nicht weg, es hat nur jemand anderes. Meine bescheidenen Marktanteile werden nach dem Restart von einer großen Kette bearbeitet. Sie brauchte sie mir nicht mal abzukaufen. Hat sie sich einfach genommen, weil ja während meiner Haftzeit niemand da war, der sich darum gekümmert hat. Ganz legal.

Aber ich freue mich darüber, dass ich in einer Demokratie lebe, die niemanden durch die Maschen ihres sozialen Netzes fallen lässt.

Als Vorbestrafter mit zwei Monaten ohne Bewährung habe ich zwar keinen Anspruch auf auch nur einen der vielen Milliarden Euro Coronahilfe, aber mein Landkreis hat mir mitgeteilt, dass ich fest mit Hartz IV rechnen darf.

Bürde des Menschen ist unantastbar

Völlig unkompliziert, ohne Tiefenprüfung und – jetzt kommts – ohne dass ich meine Hosen komplett runterlassen muss. Ich darf meine Würde behalten. Allein dafür lohnt es sich doch, das alles so bleibt wie es war.

Mein Resozialisierungsprogramm sieht jetzt wie folgt aus: Ich werde mich für ein paar moldawische Leu bei dem Zulieferer bewerben und damit die deutsche Automobil-Wirtschaft unterstützen, die dadurch weiterhin den Profifußball sponsern kann, damit sich die Stars chinesische Kartoffeln aus Marokko leisten können.

Zwar stehe ich in diesem System ganz unten, aber ich werde ein Teil davon sein und damit systemrelevant. Die nächste Krise kann kommen. Sie wird sogar kommen. Ich sehe das jetzt ganz optimistisch.

 

5 Kommentare

Zum Kommentar-Formular springen

  1. Als freiberuflich Tätiger hat die Politik des Einsperrens gravierende Folgen! Nicht nur das Geld fehlt, auch die soziale Akzeptanz!
    Toller Artikel, Danke

  2. Trefflicher Artikel, meine Hochachtung.
    Ich schlage für alle Freigänger dringend viel frische Luft vor 😉
    Da kann man sich mit den immer mehr werdenden anderen Freigängern auch mal kulturell austauschen, ist ja sonst wenig Kultur außerhalb des WWW.
    Vielleicht wird ja auch die eine oder andere Freiluftbühne aufgebaut, an deren Sockel man sich mit Abstand besser unterhalten kann;)

  3. Kann man sich für einen Beitrag bedanken, bei dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt? Ja, man kann … und Frau tut es auch. Schonungslos und ehrlich wird hier beschrieben, wie Mann unschuldig in eine Ecke getrieben wird, wo es schwer fällt, seine Würde zu bewahren. Das dies trotzdem der Fall ist dafür bedanke ich mich bzw. ziehe meinen Hut.
    Und ja, manchmal ist Satire böse, nicht zuletzt weil sie das eigentlich Böse aufzeigt. Schade nur, dass es wahrscheinlich ungehört verhallt. Oder aber in x-Jahren aus dem Archiv gekramt wird, ähnlich wie wir es heute gerne mit Tucholsky machen und entgeistert zur Kenntnis nehmen, dass man es damals schon gewusst hat …

    • Maskenballerina auf 15. Mai 2020 bei 8:42
    • Antworten

    Bei diesem Beitrag will mir nichts, aber auch gar nichts in Richtung Lachen aufkommen.
    Es gibt aber bei mir jetzt neue Stoffmasken, mit Nasenbügeln, speziell für Brillenträger. Wenn dann die Brille nicht mehr anläuft u. man auch Kleingedrucktes besser lesen kann, vielleicht findet sich noch irgendwo eine bisher unentdeckte Klausel, die allen die gleichermaßen betroffen sind, weiter hilft? Oder die fürs Volk Verantwortlichen lesen mal diesen MN-Beitrag im Kontext mit den Urschriften der Menschheit u. bessern dem entsprechend möglichst schnell ihre Gesetzte nach?
    So geht es jedenfalls nicht! Das kann dem friedlichen Zusammenleben der Bürger nicht dienlich sein!

    • Hängematte auf 14. Mai 2020 bei 17:48
    • Antworten

    Beim Lesen des Artikels wird mir mulmig. Ich befinde mich in der sozialen Hängematte. Habe Anspruch auf Gehalt, das pünktlich gezahlt wird. Keine Sorgen ums Geld, auch bei Krankheit oder zeitweise geringerem Arbeitspensum. Schlechtesten Falls Kurzarbeit könnte drohen- da stellt sich keine Existenzfrage für die Familie. Klar, ich bin nicht frei, kann meinen Alltag nicht nach meinen Neigungen gestalten, muss mich ein- und unterordnen.
    Das sieht es bei Soloselbständigen ganz anders aus. Diese Berufsgruppe zeichnet sich durch ein besonderes Maß an Kreativität aus. Deren Untergang wäre ein nicht auszugleichender Verlust für die Vielfältigkeit der Gesellschaft. Insbesondere dem freie Journalismus, also Euch Freunden des MN-Bunkers, droht das Aus.
    Zur Erhaltung unserer freien Berichterstattung sollten Mechanismen gefunden werden, die diesem Berufsstand das Überleben ermöglichen.
    Die Soloselbständigen haben jahrzehntelang, ohne staatliche Transferleistungen in Anspruch zu nehmen, ihre Familien ernährt. Die Aussicht auf Hartz IV ist eine Watsche ins kluge und geschätzte Gesicht.
    Genauso empfinde ich einen Zuschuss von 2.000 € als peinliches Almosen, was lediglich den Geruch einer Sterbehilfe hat. Damit haben sich Leipzig und Dresden nur einen Ablassbrief gekauft.
    Ich habe von Initiativen gehört, die für Soloselbständige der Kunst- und Kulturszene, einschließlich der Werbebranche und für freiberufliche Journalisten, eine Art Kurzarbeitergeld einfordern. Diesem Aufruf schließe ich mich an. Wie wäre es damit, eine Art Durchschnittslohn der Beschäftigten in dieser Branche zu berechnen und davon 60, 67 oder 80 % ein Jahr lang auszuzahlen, ebenso ohne Bedürftigkeitsprüfung und Verwendungsnachweis!
    Unser Staat war in der Lage über hunderte Milliarden Corona-Hilfe binnen einer Woche zu entscheiden. Dabei kann schon mal etwas durchrutschen, niemand ist perfekt und eine allseitige Gerechtigkeit gibt’s unter Menschen ohnehin nicht.
    Dennoch: Ich hoffe sehr, dass die notwendigen Korrekturen nicht zu spät kommen. Uns würde soooo viel fehlen!

Schreibe einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.