Am Vorabend des 30. Jahrestages der Deutschen Einheit bekundeten am Freitag hunderte Markranstädter Werktätige aller Klassen und Schichten in einer machtvollen Demonstration ihre enge Verbundenheit mit der Treuhandanstalt und feierten zugleich die Errungenschaften, die aus dem friedlichen Prozess des Zusammenwachsens empor gewuchert sind. „Markranstädt leuchtet“: das war mal ein wirklich sympathisches Beispiel, wie man auch ohne nervendes Brimborium feiern kann.
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In Anlehnung an die vor 30 Jahren neugewonnene Freiheit hat die Stadt als Veranstalter den Beteiligten alle Freiheiten gelassen, dieses Fest auszugestalten. Und die ließen sich mit kreativen Ideen nicht lumpen.
Ein Gefühl dessen, was mit dem Niedergang der DDR verloren ging, bekamen die Gäste beispielsweise am Stand eines Gastronomen auf dem Marktplatz gratis geboten. Dort gabs schon gegen 21 Uhr nichts mehr zu essen. Anstehen für nichts … wie haben wir das vermisst.
Vor der Stadthalle ein ganz anderes Bild. Hier gabs Häppchen vom Café Ella und vom Seebenischer Lebensmittelmarkt. Allerdings auch nicht ganz ohne politische Inhalte. Ein Blick durch die Scheibe des Kühlschrankes offenbarte, dass der Islam im 30. Jahr der Einheit irgendwie doch zu Deutschland gehören muss. ISIS auf Eis – heiße Suppe und Glühwein gingen jedenfalls deutlich öfter über den Tresen.
Die Stammtischler sorgten mit harmonisch dosiertem deutschen Liedgut für ausgelassene Stimmung, die in choralem Mitsingen ausartete. Die Fischerin vom Bodensee, vor 30 Jahren wurde damit noch eine Gegend besungen, die wir nur vom Atlas her kannten. Das Ringberghaus in Suhl hat auch gereicht. Schließlich wollte man Bedürfnisse befriedigen und nicht erzeugen.
Auch weiter hinten, vorm GenussAmt, bildeten sich zeitweise Menschentrauben. Ein guter Tropfen (aus dem Glas und nicht aus Plastebechern vom Klassenfeind) und dazu angenehme Noten vom Straßenmusikanten sorgten hier für beste Unterhaltung.
Umrahmt wurde die Atmosphäre dort vom Rot des Rossmann-Tempels und der gleichen Farbschattierung im Aldi-Logo auf der anderen Seite. Die colorierte Aussage dieser künstlerischen Komposition liegt auf der Hand: Einheit ist immer!
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Auf dem Rückweg lockte eine seltsame Lichterscheinung im Park die Füße des Flanierenden in den Weißbachweg zum MGH.
Dort trällerten die Goldgählschen des MCC wiedervereinigte Weisen in den Nachthimmel. Dass der Klangkörper komplett im Dunkel stand, hatte wohl seine Gründe, denn die Blicke des Publikums wurden an andere Stelle gelockt.
An die Wand des Mehrgenerationenhauses wurden Bilder aus dem „alten Markranstädt“ gebeamt. Das hat alle Passanten gefesselt. Es wurde gerätselt, welche Gebäude zu sehen waren, wo sich was befand und aus welcher Zeit die Aufnahme stammen könnte.
Und auch so manch alte Geschichte und Legende, die sich hartnäckig darum ranken, wurde erzählt. Offenbar herrscht bei so manchem Markranstädter noch heute eine tiefe Unsicherheit darüber, ob er nicht doch im Volkshaus gezeugt wurde. Ein History-Kanal unter freiem Himmel, auch das ist Markranstädt 30 Jahre danach.
Vom Dekostübchen zum Markt
Vom Weißbachweg gings dann an die Feuerschale in der Hordisstraße. Hier hatte Uta Lüngen das Entree zu ihrem Dekostübchen festlich aufgehübscht.
Das hat den Nerv der Passanten offenbar stärker berührt als sie dachte. Jedenfalls hatte die Chefin kaum Zeit, sich um die vorbeiflanierenden Menschen zu kümmern, weil sie im Geschäft nächtliche Kunden bedienen musste.
Aber zum Glück war ja da noch ein emsiger Lebensgefährte, der die Unterhaltung der Gäste vorm Dekostübchen übernahm.
Auf zur vorletzten Station und damit zurück zum Markt. Dort spielten „The Rollin‘ Bros“, die das Event um 20 Uhr eröffnet hatten, zum zweiten Mal auf.
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Die Band um den Markranstädter Corona-Helden Henning Hesselbarth hatte eine beeindruckende Schar begeisterter Groupies im Gefolge und legte eine Performance auf die Bretter, die alle Generationen angesprochen hat.
Vom guten alten Rock bis hin zu modernen Rhythmen heutiger Tage. Spätestens als „The Letter“ erklang, hätten manche Besucher Wetten drauf abgeschlossen, dass da The Box Tops auf der Rathaustreppe spielen.
Mit diesen Eindrücken im Gepäck zog es schlussendlich noch einige Besucher zur mitternächtlichen Andacht in der Kirche. Wer dabei war, wird bestätigen, dass die Ausführungen von Pfarrer Zemmrich sowohl für Christen als auch Nichtchristen der unangefochtene Höhepunkt des Abends waren.
Wie immer hat Michael Zemmrich nicht nur die richtigen Worte gefunden, sondern ALLEN etwas mit auf den Weg gegeben. Wenn man in der Kirche Beifall geben dürfte, hätten sogar Wessis geklatscht. „Gott du machst fröhlich was da lebt im Osten und im Westen“ zitierte er eingangs Psalm 65 und fragte, ob wir jetzt 30 Jahre fröhlich waren.
Und so verließ er nur scheinbar das biblische Drehbuch und verknüpfte die Ereignisse des 89-er Herbstes mit den Erfahrungen, von denen wir in der Folgezeit heimgesucht wurden. Nein, es war kein Schlechtmachen der Entwicklungen, aber auch kein bedingungsloses Bejubeln, wie es sonst alljährlich von jenen Polit-Protagonisten veranstaltet wird, die damals gar nicht dabei waren.
Pfarrer Zemmrich nahm die Zwischentöne auf, fragte, ob und wie und worüber wir uns freuen. Und er erinnerte an die Vergessenen dieses Prozesses. Nicht nur an Verlierer und gesellschaftliche Opfer, sondern auch an die Rolle der Sowjetunion in dieser Phase und an Michail Gorbatschow. Nur das Schweigen der Russen habe dafür gesorgt, dass bei uns die Waffen schwiegen.
Es war die richtige Botschaft, um auf dem Heimweg weiter nachzudenken und es war der richtige Abschluss eines Abends, der wohl unter dem Zeichen des 30. Jahrestages der Deutschen Einheit stand, aber gerade wegen der aktuellen Situation auch ein toller Tag der Begegnung war.
1 Kommentar
Der Abend vermittelte ein Stück Normalität in der ansonsten von CORONA-Schutzmaßnahmen geprägten Veranstaltungs-Zeit. Dazu muss man ja auch erstmal den entsprechenden Mut haben, die Verantwortung zu übernehmen. Die Veranstalter haben das bewiesen. Vielen Dank dafür! Markranstädt ist eben anders und das ist gut so!
Auch vielen Dank für die vorliegende, ausgewogene Berichterstattung, die alle Beteiligten gleichermaßen benennt und beschreibt.