Markranstädter Kinderfest: Eine Märchenstunde für Erwachsene

Am Donnerstag beginnt das 147. Kinderfest. Es steht unter dem Motto „Märchenzeit in Markranstädt“. Gut, das ist jetzt nicht gerade ein Ausrufezeichen in einer Stadt, die quasi davon lebt, dass das ganze Jahr über Märchenzeit ist (von „Es war einmal eine Beigeordnete“ über „Es war einmal ein Stadtbad“ bis hin zu „Es war einmal ein Mitarbeiter…“), aber  ein kleiner Rückblick auf die „Es war einmal“-Ära lohnt sich trotzdem. Denn als im September 1846 das erste Markranstädter Kinderfest gefeiert wurde, haben die Storys der Gebrüder Grimm noch nach frischer Druckerschwärze gerochen. Gerade mal 30 Jahre alt war die Erstauflage der Kinder- und Hausmärchen zu jener Zeit. Die Horror-Geschichten über bis zum Zäpfchen mit Steinen gefüllte Wölfe, das Zündeln mit Hexen, vergiftete Mädchen oder gefressene Großmütter haben seither die Lebensentwürfe ganzer Generationen beeinflusst.

Allerdings nicht nur die von Kindern. Auch den Erwachsenen musste klar gewesen sein, dass sie ihren Kids mit solchen Märchen quasi eine Anleitung zur Ausübung häuslicher Gewalt in die Wiege legten.

Von wegen alte Frauen in den Ofen stecken und so. Noch heute soll es Mütter geben, die sich vor dem Blick in die Mikrowelle erst mal sorgsam vergewissern, dass keines ihrer Bälger sprungbereit hinter ihnen steht. Anderen Gräueltaten hat die gesellschaftliche Entwicklung inzwischen den Nährboden entzogen.

Zwischen Tier- und Kindswohl

Warum sollte man jetzt noch einen Frosch an die Wand werfen, wo doch für teuer Geld extra Krötenwanderwege gebaut werden, damit die Amphibien unter sich bleiben und wir gar nicht erst in die Versuchung kommen können, sie für sexualisierte Handlungen zu missbrauchen?

Nicht einmal vor sexuellem Missbrauch von Amphibien schreckten die Gebrüder Grimm zurück.

Nicht einmal vor sexuellem Missbrauch von Amphibien schreckten die Gebrüder Grimm zurück.

Manche Märchenszenen haben allerdings nichts an Aktualität verloren. Das Böse ist lediglich in der Wahl der Mittel erfinderischer geworden.

Märchenzeit heute

Statt an den Fassaden von Häusern zu knabbern, werden diese heute von herumziehenden Jugendlichen beschmiert und das Gift, mit dem im Kampf um die Schönste im ganzen Land einst Schneewittchens Apfel kontaminiert wurde, spritzen sich die Milfs unserer Tage jetzt freiwillig unter ihre Wangen.

Erhalten hat sich auch die Moral der Geschichte des Rattenfängers von Hameln. Der hat zwar längst das Instrument gewechselt – statt auf einer Flöte zu blasen, bedient er sich heute der Werbetrommel – aber dafür folgen ihm jetzt nicht nur die Kinder einer Stadt, sondern des ganzen Landes. Jeder X-Box-Generation und jeder neuen Playstation ziehen die Kids gleich einer Fronleichnamsprozession völlig entseelt hinterher.

Die neuen Rattenfänger

Blickt man heute auf das bunte Treiben des Markranstädter Kinderfestes, scheint von der schwarzen Pädagogik der einstigen Psycho-Thriller nichts mehr übrig zu sein. Die Wölfe sind ausgerottet, Meisterdiebe in der Stadt längst salonfähig geworden und dass es von Schönsten im ganzen Land nur so wimmelt, liegt nicht nur an der kosmetischen Chirurgie. Seit Bodyshaming gesellschaftlich geächtet ist, wird sogar der Buckel der Hexe als ultimatives Must-have unter den Outdoor-Rucksäcken für die Kräutersuche auf den versiegelten Betonflächen gefeiert.

Das Zeug, mit dem dieses hübsche Mädchen einst vergiftet wurde, spritzen sich die Milfs heute freiwillig selbst unter die Haut.

Das Zeug, mit dem dieses hübsche Mädchen einst vergiftet wurde, spritzen sich die Milfs heute freiwillig selbst unter die Haut.

Schlussendlich ist es der letzten Generation wirklich nicht mehr glaubhaft zu vermitteln, dass ein Jüngling mitten in der Brutzeit der Keilschwänzigen Ligusterdommel eine Rosenhecke verschneiden darf, während der eigene Vater für das gleiche Vergehen vom Gartennachbarn angezinkt und auf Jahre hinaus ins gesellschaftliche Abseits verbannt wird. Selbstredend hat auch das tapfere Schneiderlein die sieben Fliegen nicht erschlagen. Niemals nicht!

Vielmehr hat der Textilschaffende in einem ergebnisoffenen Diskurs so lange auf die Insekten eingeredet, bis diese keine Argumente mehr hatten und den Platz auf der Marmeladenbemme freiwillig räumten.

Nicht zuletzt verbietet es sich im Zeitalter des Diabetes auch ganz von selbst, kleine Gören mit Kuchen durch den vom Klimawandel ausgetrockneten Wald zur Großmutter zu schicken. Nicht nur zum Glück für die Oma, sondern vor allem für das Kind. Was soll später mal aus einem Mädchen werden, das im Schlafzimmer statt einer siechen Seniorin plötzlich einen bis auf die Handrücken behaarten Hungerleider vorfindet, der sich in Frauenkleidern knurrend auf der Matraze räkelt?

Bodyshaming bei den Gebrüdern Grimm: Der Buckel der Alten ist ein Musthave. Dass Gretel ihrem Bruder das Ställchen öffnete, ist dagegen ein klarer Fall von Inzest.

Bodyshaming bei den Gebrüdern Grimm: Der Buckel der Alten ist ein Musthave. Dass Gretel ihrem Bruder das Ställchen öffnete, ist dagegen ein klarer Fall von Inzest.

Nein, mit dem Slogan „Es war einmal…“ lässt sich heute kein Kind mehr von seinem ergonomischen Sitzsack locken. Andererseits würde die Einleitung „Es wird einmal sein …“ eher die Eltern verunsichern. Dornröschens Geburtstagsgesellschaft als LGBTQ-Kommune, eine Mahnwache festgeklebter Tierschützer vor dem Gehege der sieben Geißlein oder ein #metoo-Shitstorm gegen Hänsel, weil er Gretel nach der Hexenverbrennung aufforderte, sein Ställchen zu öffnen – das ist der Stoff, aus dem die Märchen der Zukunft gestrickt werden.

Da ist es doch schön, wenn man sich wenigstens beim Markranstädter Kinderfest noch einmal an die nostalgische Zeit erinnern kann, als man noch an Zwerge, verwunschene Prinzen oder verzauberte Frösche glaubte. Denn da sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute.

4 Kommentare

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  1. Das Ding taugt als Leitartikel für sämtliche deutsche Medien. Nur was es mit der Keilschwänzigen Ligusterdommel auf sich hat, müsste noch erklärt werden. Das Viech kennt nicht mal Google. Aber ansonsten: Note 1. Vielen Dank wieder mal und weiter so!

    1. Die führenden Leidmedien können sich kompetente Schriftkundige wie uns nicht leisten. Man muss schon die Nachtschichten lesen, um nicht zu wissen, was eine Keilschwänzige Ligusterdommel ist. Sie brütet jetzt übrigens in Dresden unter der neuen Waldschlösschenbrücke.

  2. Vergesst mir bitte nicht den kleinen Muck. Der sollte für sein Leistung vom König 10 Taler erhalten. Nachdem sich allerdings die Minister bedient hatten, blieb für den kleinen Muck nur noch ein Taler übrig.
    Mit zunehmendem Alter lernt man: Das ist gar kein Märchen!

    1. Den kleinen Muck hatten wir schon stereotyp zurechtgegendert. Lesen Sie hier: https://nachtschichten.eu/endlich-der-grosse-weisse-muck-ist-da/

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