Unsere Nachbarn: Die Fahne hoch, die Köpfe fest geschlossen…

Ein Bierdeckel ist ein sehr vielseitiges verwendbares Artefakt. Man kann damit Kartenhäuser bauen oder sie sammeln, kann darauf Werbebotschaften transportieren, anschreiben lassen, sich die Telefonnummer der Blondine vom Nebentisch notieren und nicht zuletzt ist da noch sein eigentlicher Sinn: Er soll das Kondenswasser des Bierglases aufsaugen. Wussten Sie schon, dass ein runder Bierdeckel standardmäßig einen Durchmesser von 10,7 Zentimetern hat? Wenn der Gastwirt darauf auch Art und Anzahl der konsumierten Getränke festhält, wird der Pappuntersetzer sogar ganz legal und hochoffiziell zur Urkunde im Sinne des materiellen Strafrechts nach § 267 Abs. 1 Strafgesetzbuch.

Normalerweise auch ein Fall für das Strafgesetzbuch sind die Bierdeckel, die jetzt in Sachsen-Anhalts Kneipen auf Betreiben der dortigen Landeszentrale für politische Bildung verteilt werden. Allerdings wirklich nur normalerweise … wenn da nicht auch noch die Rückseiten wären, die angeblich alles wieder gut machen. Bierdeckel statt Lehrer, so stellt sich wenige Kilometer westlich von Markranstädt der Alltag dar. Vor diesem Hintergrund wird der tiefe Wunsch nach Grenzkontrollen am Floßgraben immer größer.

„Wir brauchen wieder die Todesstrafe“ oder „Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg“ – solche Parolen werden neuerdings ganz offiziell in den Kneipen von Sachsen-Armut verteilt. Auch die Parole „Alle Muslime sind Terroristen“ steht auf einem dieser Bierdeckel. Nur dem, der da am Stammtisch nicht gleich das Horst-Wessel-Lied anstimmt, erschließt sich möglicherweise der Hintergrund. Auf der Rückseite steht die Erklärung. Im Fall der Moslem-Terroristen steht beispielsweise: „In Deutschland leben 4 – 4,5 Millionen Muslima und Muslime. Von diesen gelten rund 0,86 % als Islamisten“.

Das ist eine Aussage, die nicht nur den IQ des durchschnittlichen sachsen-armutinischen Kneipenbesuchers zu reflektieren scheint, sondern stellt auch den Verfassern ein schlechtes Zeugnis aus. Abgesehen davon, dass mit dieser Aussage alle Islamisten pauschal als Terroristen bezeichnet werden, kann man darüber hinaus nicht erwarten, dass sich der Durstige die aufklärende Rückseite seines Bierdeckels auch anschauen kann, weil da in der Regel sein Glas draufsteht.

Wie immer, wenn man die Farbe Braun symbolisieren will, muss auch auf den Bierdeckeln in Sachsen-Armut die Schriftart Fraktur herhalten. Die wurde auf Anordnung Hitlers übrigens schon am 3. Januar 1941 aus den deutschen Dokumenten wie auch aus der

Presse verbannt und durch die lateinische Antiqua ersetzt. Der Duden erschien letztmals im Jahr 1941 in Fraktur. Aber die Geschichtsschreibung hat es nun mal so gewollt: An ihrer Schriftart sollt ihr sie erkennen…

Übrigens: Nicht nur Politik wird mit den Deckeln gemacht. Auch in Sachen Biologie erhält der Sachsen-Armutiner zwischen Arendsee und Zeitz Aufklärung. Auf einem der Bierdeckel steht zum Beispiel der Spruch: „Homosexualität ist widernatürlich“. Dreht man die Pappe um, findet man nicht etwa die Unterschriften der Mitglieder der katholischen Bischofskonferenz, sondern in der Tat einige Fakten, die als Beweis für Gegenteil gelten sollen. Ein sicher zweifelhaftes Bildungsmodell. Woanders braucht man keine Bierdeckel dazu, weil man das schon in der Schule lernt. Genau dort liegt aber im Nachbarland der Hase im Pfeffer.

An der Lützener Grundschule beispielsweise wurde letzte Woche gestreikt, weil es dort nur vier Lehrer für sechs Klassen gibt. Sieben Eltern haben ihre Kinder zum Ende der Herbstferien schon abgemeldet, weil es keinen Sinn macht, aus mehreren Jahrgängen wild zusammengewürfelte Klassen per Notprogramm zu unterrichten. Das Ergebnis der Demo: Eine Studentin solls jetzt richten und zwei Lehrer aus Hohenmölsen ab und zu mal in Lützen vorbeischauen.

An ökonomischer Effizienz ist dieses Modell derweil nicht zu überbieten und könnte bald beispielgebend für die anderen 15 Bundesländer werden.

Wenn man auf die Schulbildung seiner Kinder verzichtet und sie so von Beginn an konsequent auf die Pfade der neuzeitlichen Hitlerjugend führt, spart man teure Lehrkräfte. Die kann man später durch ein paar preiswerte Biedeckel ersetzen, mit denen man die dann ausgewachsenen SS-Kader am Stammtisch wieder auf den Pfad der demokratischen Tugend zurückführt. Hier kommt die absolute Überlegenheit der politischen Bildung gegenüber banaler Schulbildung voll zum Tragen: Bierdeckel statt Lehrer. Das ist schon beängstigend einfach.

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Das wäre unser Vorschlag.

Mehr Fragen als vorher und alles ungeklärt?

Viele Seebenischer werden sich noch an die gar nicht weit zurückliegenden Tage erinnern, da ganze Heerscharen von Aufklärern, Beratern und schlussendlich Anbietern vollbiologischer Kläranlagen ins Dorf einfielen. Nachdem zwar nicht das Abwasser, dafür aber zumindest die gesetzlichen Grundlagen geklärt waren, wurde der Sinn solcher Anlagen erläutert. Vollbiologisch war demnach gleichbedeutend mit absolut sauber.

An anderen Orten ließen sich namhafte Politiker sogar herab, pressewirksam so zu tun, als würden sie einen als biologisch geklärtes Abwasser getarnten Schluck Volvic trinken. Nun aber erfahren die Seebenischer aus der Presse, dass ihr teuer geklärtes Abwasser nicht nur nicht sauber ist, sondern sogar nur vorgeklärt. Wohl dem, der nur zur Miete kackt. Da sowas auf dem Lande eher selten vorkommt, blicken wir heute mal statt durch das satirische Monokel durch eine handelsübliche Klobrille. Und die ist von Natur aus nicht rosarot.

Am teuersten bezahlt hat die vollbiologische Kläraktion im Markranstädter Süden wahrscheinlich die Person, die am wenigsten davon hatte. Eine Äußerung, der man nachsagt, dass sie auf dem Weg zur Zunge möglicherweise den Umweg über die unmittelbar darüber befindliche biologische Klärstufe scheute, kostete ihr viele Stimmen und damit wohl auch den Posten.

Dabei war die Ansage durchaus pragmatisch, denn wer seine Ausscheidungen nicht bezahlen kann, hat auch kein Recht auf ein Klo. So einfach ist das. Drum sind die Leute in jenen Epochen, als es noch kein Geld gab, immer in den Wald gegangen, um ihre Geschäfte zu verrichten. Kacken war praktisch schon damals unbezahlbar.

In der Neuzeit haben findige Köpfe entdeckt, dass man mit dem Geschäft durchaus ein Geschäft machen kann. Ironie der Geschichte: Die Ideen dazu werden wahrscheinlich genau dort geboren, wo jedem Menschen die besten Ideen kommen. Auf dem Klo.

Jahrzehntelang flossen die Extrakte dieser Ideenschmieden, geklärt oder ungeklärt, auch auf die Seebenischer Bruchfelder, die später Vernässungsfläche genannt und vor kurzem sogar zum See befördert wurden. Von dort wurden sie auf vielfältige Weise dahin transportiert, wo so vieles landet, was die Zivilisation nicht mehr braucht: nach Sachsen-Anhalt.

Im Jahr 2010 wurden die ländlichen Süd-Markranstädter vergattert, vollbiologische Kläranlagen in ihren Höfen eingraben zu lassen. Wobei der Begriff vollbiologisch von vornherein als Werbegag verstanden

wurde, weil die vorgeschriebenen Kotquirle und Kackschredder mindestens ebenso viel unbiologischen Strom fressen, wie die computergesteuerte Regelungstechnik, deren Leistungsmerkmale sogar die bei Airbus eingesetzten Autopiloten in den Schatten stellen. Die dafür erforderlichen mitunter fünfstelligen Investitionen wurden den privaten Haushaltsvorständen mit der Verheißung schmackhaft gemacht, dass hinten sauberes Wasser rauskommt.

Die örtliche Tageszeitung berichtete gestern über das Abwasserdilemma in Seebenisch. So ganz zu verstehen war der im Artikel dargelegte Sachverhalt leider nicht und deshalb wird es neben in doppeltem Sinne ungeklärten Fragen auch jede Menge Irritationen geben.

So wurde zwar geschrieben, dass aus der einstigen Vernässungsfläche quasi über Nacht nun doch noch ein See geworden ist, dennoch wurde der Bauamtsleiterin am Schluss des Beitrages wieder der Begriff Vernässungsfläche in den Mund gelegt. Ja, wie jetzt?

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Trotz oder gerade wegen vollbiologischer Kläranlagen könnte, wie dem Pressetext der gestrigen LVZ-Ausgabe zu entnehmen ist, der neue See in Seebenisch zur Kloake werden. Das steht den vollmundigen Werbeversprechen der Anlagenhersteller ebenso entgegen wie die Ziele des Gesetzgebers. Irgendwo stinkt’s.

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Die Bewohner an der Südküste des Lago Radona dürfen auf ihren Toiletten sorgenfrei drücken, ihre Exkremente fließen in einen Container.

Auch die städtische Ankündigung, dass das Verlegen einer neuen Leitung und damit die Herstellung einer zumindest teilweise zentralen Abwasserlösung mit keinen neuen Kosten für die Anwohner bzw. Nutzer verbunden sein soll, wurde lediglich als Wunsch formuliert, der zudem gleich im nächsten Satz umgehend mit der einleitenden Floskel „gleichwohl“ entweiht wurde.

Die stärksten Irritationen dürfte aber das gleich mehrfach verwendete Attribut „vorgeklärtes“ Abwasser hervorgerufen haben. Da fragen sich die besorgten Verursacher fäkaler Frachteinträge nicht ohne Grund, ob man ihnen vor vier Jahren für mehrere tausend Euro nur läppische Vorreinigungsstufen statt vollbiologischer Kläranlagen untergejubelt hat.

Wenn trotz Einsatzes hochmoderner, leistungsfähiger und noch dazu vollbiologisch arbeitender Kläranlagen ein zum See avancierter Teich zu einer (Zitat:) „stinkenden Kloake“ zu werden droht, dann stinkt woanders was – und zwar gewaltig.

 

Ihr Autohendla emfiehlt: Eima Merseburg mit ohne Bremze

So langsam dürfen sich die Markranstädter Nachtschichten wohl als etabliert bezeichnen. Nicht nur wegen solider dreitausend Klicks pro Monat. Immer öfter klingelt es auch im eMail-Kasten und es kommen interessante Informationen, wichtige Hinweise und Themenvorschläge. Selten war bislang ein Bild dabei. Jetzt aber fanden wir ein solches im digitalen Briefkasten. Ein treuer Leser (vielen Dank nochmal!) hatte das Motiv sozusagen am Straßenrand aufgelesen. Allerdings in Merseburg und das hat ja mit Markranstädt nun rein gar nichts zu tun. Wie also einen lokalen Bezug herstellen? Im Augenblick höchster Ratlosigkeit kam uns die Stadt (unfreiwillig) zu Hilfe.

 

Die Internet-Präsenz der Stadt Markranstädt begrüßt ihre Betrachter jetzt mit neuen Worten, die – Besucher der Stadtratssitzungen wissen das – ebenso schwungvoll wie hartnäckig gefordert wurden. Aber wie sagt ein uraltes Sprichwort, das in den letzten Jahrhunderten an gleicher Stelle fast schon zum Synonym der Stadt wurde? Was lange währt…

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…ohne Markranstädt auf Dauer verlassen zu müssen (screenshot: www.stadt-markranstaedt.de)

Sympathisch klingt’s in Aug und Ohr, was man da zu lesen bekommt. Und wenn man gar zu glauben bereit ist, dass sich nach Schule, Ausbildung oder Studium bestimmt ein interessanter und solider Arbeitsplatz in einem unserer mittelständischen Unternehmen findet, dann zählt Markranstädt bestimmt auch zu den interessanten und soliden Top-Adressen in Europa, mal abgesehen von interessanter und solider Bezahlung.

Eine Universität haben wir nicht in Markranstädt, das ist aber auch der einzige Makel unserer Stadt, die ihren Seniorinnen und Senioren mit ihrem Angebot an Vereinen, dem Kulkwitzer See und geschichtlich bedeutsamen Bauten und Orten ebenfalls Abwechslung bietet.

Aber da es in den Vororten Halle, Leipzig und Merseburg genügend Unis gibt, schmälert das unsere Standortmerkmale in keinster Weise. Vor allem das in der Nähe befindliche Merseb… Moment mal! Merseburg, da war doch was? Ach ja: Unser Leserfoto (rechts).

Stellen wir der Hoffnung anheim, dass sie uns nicht enttäuschen möge und die Werbedesigner, die für die Slogans an dieser Werkhalle einer Merseburger Autowerkstatt verantwortlich zeichnen, Absolventen der dortigen Hochschule sind.

Seien wir lieber optimistisch und sehen diese Faustschläge ins Angesicht unserer Muttersprache und Rechtschreibung als sympathiefördernde Vorboten europäischer Integration. Unsere Kinder sprechen schließlich schon so, warum sollen hochqualifizierte Kfz-Mechatroniker an interessanten und soliden Arbeitsplätzen dann nicht auch so schreiben dürfen?

Spätestens wenn der Mann vom TÜV Stoßdämfer und Bremzen ebenso gewissenhaft prüft, wie der Autohendla Auspuff Anlage schwaßt, werden wir wieder auf Pferdefuhrwerke umsteigen und uns auf die traditionellen Werte besinnen. Dann drohen uns auch keine Plechschaden mehr oder gar Karosserienschaden von Unfalsautos itc.

Ein Klick auf das Foto entführt Sie in die muttersprachliche Apokalypse der europäischen Osterweiterung.

Ein Klick auf das Foto entführt Sie in die muttersprachliche Apokalypse der europäischen Osterweiterung. Die Handynummer soll übrigens fehlerfrei sein…

Wie gut, dass man das im Rathaus erkannt hat und seinen Bürgern eine ordentliche Portion Mut mit auf den Weg gibt. Man kann in Merseburg studieren, ohne Markranstädt auf Dauer verlassen zu müssen, verspricht der Bürgermeister. Angesichts dieser Verheißung und der dramatischen Fotoaufnahme aus dem Krisengebiet weitet sich doch jedem angehenden Studenten das Herz zu einem saftigen Steak.

 

Klaut uns Lützen den Branchenmixer?

Nach dem Uhrmacher hat jetzt im vorderen Teil der Leipziger Straße ein weiteres Geschäft seine Pforten geschlossen. Doch während Uhrmacher Mücke mit einem Dankeschön an seine treue Kundschaft erst die Reißleine und dann ins Anhaltinische zog, hinterlässt dieses Geschäft im Schaufenster eine Botschaft, die Fragen aufwirft.

Zunächst so viel: Ob und wann jemand sein Geschäft schließt, ist allein seine Sache und in jedem Fall wird das auch triftige Gründe haben. Es ist daher auch gut möglich, das die Baustelle Leipziger Straße ihren Teil dazu beigetragen hat, dass es so weit kam. Auch wenn die Bauzäune in jenem Bereich zwischen Schul- und Parkstraße schon seit fast einem Jahr verschwunden sind, mag es sein, dass manche Wunden nur langsam heilen, andere wiederum vielleicht gar nicht.

Doch fehlende Kundschaft wird noch nicht einmal als Hauptgrund angeführt, obwohl eine dreijährige Bauzeit und damit verbundene Vollsperrungen, von denen im Vorfeld niemand was gewusst habe, gleich in den ersten Zeilen genannt werden. Einer der explizit angeführten Gründe ist der unzureichende Branchenmix. Da sich die Stadt dafür nicht verantwortlich fühle, fehle ein Konzept und ohne das wiederum könne man das Geschäft aus betriebswirtschaftlichen Gründen nicht weiterführen.

Alles für das Wohl des Volkes

Nun ist es ja im Jahr 25 nach der Wiedervereinigung so, dass die Zeiten dem Himmel sei Dank vorbei sind, da vom Rat des Kreises fünf Jahre voraus geplant und festgelegt wurde, in welche leerstehende Bruchbude eine Drogerie einzuziehen oder wo ein Friseur aufzumachen hat. Den Branchenmix in der Leipziger Straße zu diktieren oder auch nur zu beeinflussen, wäre für die Stadt nur dann möglich, wenn ihre legislativen und exekutiven Organe die führende Rolle als Speerspitze der Arbeiterklasse zurückerlangen würden oder sie Eigentümerin der Ladenimmobilien wäre. Beides ist nicht der Fall.

Natürlich wäre es schön, wenn es beispielsweise eine Drogerie gäbe. Fast wäre es vielleicht so gekommen, aber Schlecker hat wohl lieber gleich dicht gemacht.

Somit gibt es also zwei Alternativen. Die erste Möglichkeit: Man will weitermachen und bildet einen Solidarpakt. Den kann man Werbegemeinschaft nennen oder Unternehmerstammtisch, Ladenverein oder wahlweise vielleicht auch Selbsthilfegruppe. Die meisten der ansässigen Händler haben das getan und werden, wenn sie das konsequent durchziehen, dereinst die Früchte dieser Tat ernten. Auch wenn ihnen mit solchen Botschaften wie der in jenem Schaufenster ein schwerer Packen aufgeladen wird, der von Solidarität oder wenigstens Sensibilität für die einstigen Nachbarn nicht viel spüren lässt. Andere haben ihre Sachen gepackt, was sicher auch eine Lösung ist. In vorliegendem Fall informiert die Botschaft im Schaufenster jedoch darüber, dass man nach Lützen umzieht. Jawoll … nochmal langsam zum Mitlesen: L Ü T Z E N.

Breit gefächertes Portfolio

Der Branchenmix in Lützen setzt sich zusammen aus einem Schreibwarenladen, einer Apotheke, noch einer Apotheke, einem Fleischer, einem Arzt, einem Zahnarzt, noch einem Arzt und noch einer Ärztin. Dazwischen noch eine Eisdiele und – falls es ihn noch gibt – ein Klamottenladen. Okay, einen kleinen Bäckerladen und einen Kosmetiksalon haben sie da auch noch. Diese Angaben sind selbstverständlich ohne Gewähr, denn auch in Lützen stehen öfter mal Umzugswagen vor den Ladentüren. Das einzig Beständige im Lützener Branchenmix ist das Schild des Fotografen, der schon seit 16 Jahren tot ist. Und ein Konzept … na ja. Man braucht da nur mal eine Stadtratssitzung zu besuchen. Vorher sollte man aber eine solche nicht in Markranstädt erlebt haben. Zu groß ist die Gefahr eines nachhaltigen Kulturschocks. Die Presse titelte da drüben schon: „Heftiges Nein gegen alles!“ Dort sind sie gegen einen Tagebau vor der Nase, aber gleichzeitig auch gegen Windkraft und Biomasse. Strom hat gefälligst aus der Steckdose zu kommen und vor Abstimmungen darf da schon mal aus dem Publikum gedroht werden, was wiederum das Landesverwaltungsamt auf den Plan ruft. Und da reden wir bei uns von aufgerissenen Gräben? Austrocknende Rinnsale sind das!

Ob sich die Stadtverwaltung in der anhaltinischen Nachbarstadt berufen fühlt, in den Branchenmix einzugreifen, darf ebenfalls bezweifelt werden. Erst jüngst ließ man dort ein größeres Catering-Unternehmen anstandslos ziehen. Der Witz: Ausgerechnet nach Markranstädt.

Man kann sich ja selbst mal die Frage stellen, warum der Broilermann diese Entscheidung traf, obwohl man direkt neben einem nur spärlich gefüllten Lützener Gewerbegebiet ansässig war, dessen größte Fläche ein Erdbeerfeld darstellt? Ein Umzug hätte quasi „über die Straße“ erfolgen können – und doch hat die Firma ihre Standortentscheidung für Markranstädt getroffen.

Chancen, Chancen, Chancen

Das hat natürlich nichts mit Branchenmix zu tun oder so. Der wird ja nicht von den kleinen Tante-Emma-Läden bestimmt, sondern von den ganz Großen der Branche und davon hat Lützen genug. Schwarz-Netto im Nordosten, Rot-Netto in der Süd-Vorstadt und Norma im Westend, gleich gegenüber der Großtankstelle, die man ja braucht, wenn man über ein Standortmerkmal wie die Autobahnauffahrt verfügt. Die Nutzung dieser Standortmerkmale ist übrigens auch pikant. Keine 500 Meter sind es vom Ortsausgang bis zur Auffahrt auf die A 38. Woanders würde man damit werben, dass sich der Anschluss direkt vor Ort befindet. In Lützen war das bis vor kurzem anders. Da hieß es im Exposé des Gewerbegebietes, dass es bis zur Autobahn 3 (in Worten: drei) Kilometer sind. Jetzt hat man das auf einen Kilometer verkürzt. Dafür hält man am Hinweis eisern fest, dass es in Lützen keinen Hafen gibt.

Wie auch immer: Der Branchenmix in Lützen ist vielfältiger geworden und dass da mal Straßen ausgebaut werden, ist dort auch nicht so schnell zu erwarten. Also: Nichts wie hin!

Nachsatz

Warum diese Zeilen? Nun – keiner der Händler in der Leipziger Straße hat es in den letzten Monaten leicht gehabt. Sie haben alle gekämpft. Zuletzt haben sie sich sogar organisiert, um sich auch perspektivisch dem Wellengang der Wirtschaft erfolgreich stellen zu können. Man kann sein Geschäft auch aufgeben oder woanders hin gehen. Diese Entscheidung steht jedem Unternehmer frei. Dabei aber eine solche Botschaft zu hinterlassen und damit zu suggerieren, dass es unsinnig ist hierzubleben, ist ein Bärendienst für all Jene, die hierbleiben wollen…oder müssen.

 

Erntedank: der gescheiterte Versuch einer satirischen Predigt

Es war ein guter und ertragreicher Sommer anno 2014. Kevin-Jason und Deborah-Chantal ist das egal. Ihre Früchte wachsen im Supermarkt und gedeihen wetterunabhängig. Milch reift im Tetra-Pack, Fleisch wird in der Fabrik hergestellt und Obst ist sowieso out, seit das private Bildungsfernsehen festgestellt hat, dass in Wurst mehr Vitamine ist. Außerdem sollen Früchte in der Natur wachsen und das ist nicht nur eklig, sondern auch gefährlich. Da lauern Fuchsbandwürmer und andere Bestien, die es auf Leben und Gesundheit ahnungsloser Menschen abgesehen haben. Erntedank? Wie jetzt? Ist die App schon als Game downloadbar?

Der Werteverfall in unserer Gesellschaft ist derart gravierend, dass er nicht mehr aufzuhalten scheint. Vor allem die versteckten Botschaften sind es, die ihn forcieren. Wenn man im Supermarkt eine Büchse junge Erbsen für 39 Cent bekommt, wird das als Erfolg gefeiert. Erfolg? Über wen? Wenn man sich mal alle erforderlichen Arbeitsvorgänge vor Augen führt und einem klar wird, dass allein die Blechbüchse dafür mehr als einen Euro kosten müsste und der Inhalt nicht unter 3 bis 4 Euro zu haben wäre, dann weiß man, wer hier besiegt – oder besser gesagt: verarscht – wurde. Schon das Saatgut ist dreimal so teuer wie die Erbsen, die da reichlich gesalzen und gewichtsfördernd in Wasser schwimmend in der Dose liegen.

Doch die Verblödung geht noch weiter. Im Supermarkt werden nur Äpfel verkauft, die sowohl hinsichtlich der Farbe als auch Größe der EU-Norm entsprechen. Selbstredend darf da auch nicht die kleinste Veränderung an der Schale sichtbar sein. Auf die Frage, warum nicht einmal eine Made in so eine Chemiekeule eindringt, kommt man ebenso wenig wie auf den Gedanken, dass wir Menschen inzwischen Dinge fressen, um die sogar Insekten und Würmer einen Bogen machen. Und wir sind sogar noch stolz drauf. Mehr noch: Wir feiern diese Errungenschaften als Prädikat der weltbeherrschenden Rasse.

altelwNein, das sind keine osteuropäischen Saisonarbeiter beim Stecken junger Haribo-Keimlinge auf einem Goldbärenfeld bei Markranstädt. Es war einmal eine Zeit, in der die Kartoffeln noch in der Erde wuchsen. Die Menschen mussten sich bücken, um sie zu ernten und die Schüler bekamen sogar Ferien, um zu helfen.  

Da ist es gut, wenn wenigstens einige Institutionen noch sowas wie einen Rest von Demut vor der Natur pflegen und man sich dort bewusst macht, was da eigentlich jeden Tag auf dem Teller liegt. Auch wieviel Arbeit da drin steckt. Erntedank nennt man das bei uns. Und auch hier spürt man von Jahr zu Jahr mehr, welche Generation das ist, die sich da zu Dank verpflichtet fühlt. Es sind die, die noch wissen, dass man einen Spaten nicht mit dem Stiel zuerst in die Erde wuchtet, dass es keinen Sinn macht, im November Freilandtomaten zu pflanzen und die im ganzen Leben nicht auf die Idee kommen würden, irgendwo in der Flur eine Cheeseburger-Plantage zu suchen.

Erntedank – das ist darüber hinaus die Zeit, auf die sich die Pfarrer auch aus kulinarischer Sicht freuen. Im Anschluss an die Gottesdienste wird in der Regel an die Tafel gebeten. Den Wert der Mahlzeit vor dem Hintergrund der Predigt noch frisch im Gedächtnis, schmeckt alles sowieso irgendwie besser. Dass man dieses Gefühl jeden Tag haben könnte, wenn man zuvor das Hirn bemüht, wissen wahrscheinlich nur die, die mit an der Tafel sitzen. Man muss sich ja in der Betriebskantine nicht jeden Tag als Christ outen, indem man ein langes Tischgebet aufsagt. Es würde vielleicht schon reichen, einfach nur mal drüber nachdenken, was da so alles auf dem Teller liegt und wieviele Menschen dafür gearbeitet haben.eierautoWer würde in unserer aufgeklärten, modernen Gesellschaft noch etwas essen, das von einem möglicherweise mit SARS infiziertem Huhn stammt und noch dazu durch das gleiche Loch gepresst wird, aus dem das Federvieh kackt? Eier werden heutzutage von einem sauberen Freiland-Automaten entbunden und die Maschine erwartet auch keinen Dank dafür.

Wir haben in Markranstädt einen Pfarrer, der für die Damenwelt sowas wie den sprichwörtlichen Typ „Traumschwiegersohn“ verkörpert. Nicht nur beliebt und sympathisch ist er, sondern auch rank und schlank. Letzteres könnte in den kommenden Wochen etwas in Mitleidenschaft gezogen werden. Wenn man sich den Erntedank-Gottesdienstplan im Markranstädter Land inklusive der anschließenden Brunchs und Kaffeetafeln anschaut, könnte es gegen Ende des Monats etwas eng werden unter dem Talar. Aber so lange die weißen Beffchen nicht waagerecht auf dem Bauch liegen, wird ihm die Gemeinde dieses persönliche Opfer sicher mit Freuden gönnen. Es kommt ja nach jeder Schlemmerei auch wieder eine Fastenzeit.

Vielleicht findet die/der eine oder andere Markranstädter/in ja auch den Weg dahin? Nicht nur, um Pfarrer Zemmrich nach dem Gottesdienst ein Stück des Kuchens der Last abzunehmen, sondern einfach nur um wieder mal mit eigenem Gefühl zu erleben, was uns – je nach persönlicher Ansicht – die Natur oder die Schöpfung so alles schenkt. Das ganze Jahr über.

Eine gute Gelegenheit wäre am kommenden Sonntag, dem 21. September um 14:30 Uhr in der St. Laurentiuskirche gegeben. Erntedank. Vielleicht kommen ja Deborah-Chantal und Kevin-Jason auch, und sei es nur, um dem Herrn zu danken, dass sie sich in den Herbstferien nicht mehr auf irgendwelchen voll-krassen Feldern bücken oder Äpfel von einem ekligen Baum aus dreckigem Holz essen müssen.

Echt cool. Danke, ey Alter.