Mit Schauspielern wie Theo Lingen, Hans Moser oder Agnes Kraus lockt man heute niemanden mehr vom Sessel hoch. Ähnliche Probleme drohten auch dem kampferprobten Markranstädter Volksensemble aus der vierten Etage. Doch der Stadtrat glänzte bei seiner dritten Vorstellung am Donnerstagabend nicht nur mit jeder Menge frischem Elan und eisernem Durchhaltevermögen, sondern auch mit beispiellosen Überraschungen. Zwar konnte das der teilweise völlig irrwitzigen Dramaturgie keine Wendung geben, schenkte dem zwischenzeitlich narkotisierten Publikum aber wenigstens ein Fünkchen Hoffnung für die Zukunft.
Schwer in Worte zu fassen, was sich da am Donnerstag zu nächtlicher Stunde hinter den Fenstern des Ratssaales abgespielt hat.
Das müssen wohl auch die Touristen so gesehen haben, die eigens für dieses Schauspiel von außerhalb angereist waren. Ein regelrechter Kulturschock war in den Gesichtern der Besuchergruppen von Envia-Tel und Regionalbus ablesbar, als sie angesichts ihrer eigentlich frühen Auftritte in den Akten 3 und 4 selbst nach zwei Stunden noch wartend in der Maske saßen.
Auf der Bühne wurde derweil, über zwei Jahre nach dem Rückzug der Ersten Beigeordneten, noch immer um deren Nachfolge gerungen. Und noch immer kam man zu keiner einvernehmlichen Lösung, weil noch immer keiner den Mut fand, den eigentlichen Grund des Problems anzusprechen. Statt dessen kurvten alle Diskussionen auf dem seit zwei Jahren bewährten Kurs, mit mannigfaltigen Scheinargumenten garniert, rund um den heißen Brei.
Was man im Volk so denkt
Aus Sicht des nicht in die tiefen Sphären der Markranstädter Kommunalpolitik eingeweihten Promuchels stellt sich das leidige Problem bislang so dar: Im inzwischen zum Zeitalter der Antike gereiften Frühstadium wurde Heike Helbig zur Nachfolgerin gewählt. Die Bürgermeisterin hat das nicht akzeptiert, blieb eine Begründung für ihre Ablehnung jedoch schuldig. Auf der Suche nach einer Erklärung gelangte das Volk daraufhin zur logischen Überzeugung, dass es der CDU-Parteiausweis ist, der Helbigs Karriere im Rathaus blockiert.

Es ist schon ein Kreuz mit dem Beigeordneten. Da können selbst die Roten gelb wählen, bis sie schwarz werden.
Um zu verhindern, dass sowas im nächsten Wahlgang noch einmal passieren kann, will Stitterich laut Volksmund das Arbeitsfeld des Beigeordneten von den Fachbereichen Finanzen und Stadtmarketing ablösen und es dem Bauamt zuordnen. Die CDU will diesen Putschversuch, der einer offiziellen Entmachtung im Rathaus gleichkommt, mit allen Mitteln vereiteln und so hat sich am Ratstisch ein Stellungskrieg entwickelt, bei dem inzwischen alle Insassen mehr oder weniger gut mitspielen.
Ring frei zur nächsten Runde
Kann sein, dass es in Wirklichkeit ganz anders ist, aber keine der zweifelsfrei unterhaltsamen und mit zahlreichen Lachern versehenen Handlungen oder Diskussionen, die bisher dazu stattgefunden haben, konnte diese Deutung auch nur ansatzweise entkräften. Auch nicht am Donnerstagabend, als die Bürgermeisterin eine externe Analyse vorlegte, welche die Zuordnung des neuen Beigeordneten zum Bauamt rechtfertigen sollte.
Das Papier wurde regelrecht zerrissen. Kritisiert wurde unter anderem, dass das Bauamt inzwischen ohnehin bereits in zwei Bereiche gegliedert ist, an deren Spitzen schon je ein Leiter positioniert wurde.
„Wenn da jetzt noch ein Beigeordneter vorgesetzt wird, haben wir im Bauamt drei hochbezahlte Leiter, die sich gegenseitig kontrollieren“, erklang es aus dem CDU-Ensemble, das „ein aufgepumptes Bauamt“ beklagte, dessen Kosten dem Steuerzahler nicht zu vermitteln wären.
Was geflissentlich unter dem Teppich blieb: Aktuell deuten die Zeichen eher darauf hin, dass das Bauamt dann nur noch aus drei Chefs besteht. Aber sei’s drum.
In der Folgezeit kam es zu jeder Menge Anträgen, Ergänzungen und Vorschlägen, die teilweise ebenso heftig wie doppelzüngig diskutiert wurden, jedoch nie dem wahren Kern der Ursache auch nur einen Millimeter näher kamen.
Theaterkritik am Mikrofon
Die inzwischen schon zum Standard-Repertoire des Kabaretts „Vierte Etage“ zählenden Versuche des einmal mehr in der Rolle des Paragrafenreiters glänzenden Sekundanten der Bürgermeisterin, der unliebsame Entwicklungen durch das Zitieren von Gesetzen bereits im Keim zu ersticken sucht, taten ihr übriges. Und so erhielt auch der im Volksmund inzwischen zum Verhinderungsbeauftragten beförderte Darsteller von seinem einstigen Ziehvater Jens Spiske eine flammende Gratis-Rasur.

Kommen auf ihren Rössern auch ohne Verbrennungsmotor vorwärts. Juristen sind die Vorreiter der Mobilitätswende.
Es sei auffällig, dass er immer sofort wisse und mit Paragrafen belegen könne, warum etwas nicht geht, kritisierte der Ex-Bürgermeister. „Wir würden in allen Belangen schneller vorankommen, wenn wir von ihnen wenigstens ab und zu auch mal erfahren würden, wie etwas, das uns weiter bringt, trotzdem gemacht werden kann.“ Es folgten Versuche von Szenenapplaus.
Nach zwei Stunden und zehn Minuten, unterbrochen von drei Trinkpausen für die erschöpften Schauspieler (das auf dem Trockenen sitzende Publikum lechzte derweil nach einer Cocktail-Bar mit Doppelherz on the Rocks, Galama Sunrise oder wenigstens einer Tai Ginseng-Schorle) kam es dann endlich zur Abstimmung über diesen ersten von 14 regulären Punkten auf der Tagesordnung.
Die neuen Alliierten
Nachdem selbst sinnvollst erscheinende Kompromissvorschläge, unter anderem eingereicht von den Grünen, abgelehnt wurden, führte die in Markranstädt schon mehrfach erfolgreich in Erscheinung getretene Allianz aus Linke, AfD und Freien Wählern schließlich zu einer Zuordnung des Geschäftsbereiches des künftigen Beigeordneten zum Bauamt. Es schien, als sorgte diese Entscheidung sogar bei einigen inzwischen sichtlich gealterten Widersachern dieser Lösung für Erleichterung, und sei es nur, weil damit der Fronturlaub noch vor Mitternacht in erreichbare Nähe rückte.
Was allerdings in den danach folgenden Sekunden geschah, war der einzige Akt des Abends, der im Angesicht des Wahlvolkes wahre Transparenz und Offenheit ausstrahlte. Glasnost im Ratssaal!
Unmittelbar nach der Abstimmung über diese erste Beschlussvorlage und damit 13 Tagesordnungspunkte vor Ende der Vorstellung, verließ die Mehrheit der AfD-Fraktion die Bühne und machte sich auf den Heimweg. Dieser von so aufrichtig sympathischer Offenheit geprägte Akt hinterließ in der vierten Etage tiefen Eindruck, zeigte er doch unmissverständlich, warum und für wen die Blauen an diesem Abend da waren.
Trotz harten Gegenwindes auf anderen politischen Bühnen war das ein eindrucksvolles Indiz dafür, dass man zumindest in Markranstädt noch heute mit solch traditionell urdeutschen Tugenden wie der bedingungslosen Treue zum Führer (m/w/d) nicht nur Blumentöpfe gewinnen, sondern auch Ermächtigungsgesetze durchbringen kann.
Markranstädt ist nicht Erfurt
Zur Erinnerung: Anno 2020 ließ die Geschäftsführung der BRD GmbH in Erfurt wegen ähnlich zustande gekommener Mehrheiten so lange wählen, bis das Ergebnis gestimmt hat. In Markranstädt hingegen wird diese Art der Mandatsausübung, wahrscheinlich sogar unter erleichterter Kenntnisnahme des Landratsamtes, schon im ersten Anlauf abgehakt. Das ist doch mal ein wahrhaft beruhigendes Signal in einer Gesellschaft, die sich ohnehin nur noch durch das Setzen von Zeichen selbstbefriedigt.
Geweckt durch das plötzliche Stühlerücken, hätten danach sogar von seniler Bettflucht in die vierte Etage getriebene Besucher so lange durchgehalten, bis sie an der Reihe waren. Denn die Bürgerfragestunde stand diesmal am Ende des Programms, womit die von unbeugsamem Sendungsbewusstsein gestählten Laien-Redner gezwungen wurden, die gesamte viereinhalb Stunden währende Dramödie von ihrer Ouvertüre um 18:30 Uhr bis hin zum Epilog gegen 23 Uhr zu durchleiden.
Fünf Stunden Lebenszeit
Samt Präludium davor und kulturkritischer Analyse danach waren das somit rund fünf Stunden Lebenszeit, die so mancher Besucher mit einvernehmlichem Sex, einem nächtlichen Spaziergang über den Alten Friedhof oder wenigstens etwas häuslicher Gewalt besser hätte nutzen können. Doch auch wenn die Zeit in der vierten Etage umsonst gelebt erscheinen mag, kostenlos war sie allemal.
Ach ja: Im Grunde genommen wurde bei dieser Gelegenheit auch eine Frage beantwortet, die bereits zu Beginn der Vorstellung aufgeworfen wurde. Gerade mal neun freie Wohnungen seien derzeit auf dem Markranstädter Markt verfügbar, wurde mitgeteilt. Für eine 16.000 Einwohner-Stadt wären allerdings 40 bis 60 freie Wohnungen normal, hieß es weiter. Die vermisste Frage nach dem Grund konnte sich der homo marcransis nun beantworten. Vor dem Hintergrund der Probleme, die allein in den vergangenen fünf Stunden gewälzt wurden, ist für lächerliche Fragen des Wohnungsbaus in den letzten Jahren wirklich keine Zeit geblieben.



























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